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EuGH: Einheitliche Auslösegrenze für Überstundenzuschläge diskriminiert Teilzeitbeschäftigte – unter Umständen auch wegen des Geschlechts

Eine einheitliche Auslösegrenze für Überstundenzuschläge für Voll- und Teilzeitbeschäftigte stellt eine ungerechtfertigte Schlechterstellung von Teilzeitbeschäftigten dar. Auch kann sie Frauen mittelbar diskriminieren, wenn mehr Frauen durch die Regelung benachteiligt werden als Männer.

Sachverhalt

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat dem EuGH durch ein Vorabentscheidungsversuchen drei Fragen zu Art. 157 AEUV sowie Art. 2 Abs. 1 Buchst. b und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54 und zwei Fragen zu § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung zur Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG (Rahmenvereinbarung) vorgelegt. Das BAG hat in einem Rechtsstreit zwischen zwei Pflegekräften, den Klägerinnen, und deren Arbeitgeber, dem KfH Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation e. V., dem Beklagten, zu entscheiden. Die Klägerinnen sind bei der Beklagten in Teilzeit beschäftigt. Für die Arbeitsverhältnisse gilt der zwischen ver.di und dem Beklagten geschlossene Manteltarifvertrag (MTV). Nach § 10 MTV beträgt die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit einer Vollzeitkraft 38,5 Stunden. Die Klägerinnen sind der Ansicht, dass der Beklagte verpflichtet sei, ihnen gem. § 10 Ziff. 7 MTV für von ihnen geleisteten Überstunden einen Zuschlag zu zahlen oder in ihren Arbeitszeitkonten eine dem Zuschlag entsprechende Zeitgutschrift vorzunehmen. Hierzu erhoben sie beim Arbeitsgericht Klage auf Erteilung einer den Zuschlägen entsprechenden Zeitgutschrift sowie auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Sie würden als Teilzeitbeschäftigte gegenüber den Vollzeitbeschäftigten schlechter behandelt. Zudem seien sie aufgrund ihres Geschlechts mittelbar diskriminiert worden, da der Beklagte überwiegend Frauen in Teilzeit beschäftige. Der Beklagte beschäftigt insgesamt überwiegend Frauen.

Die Klage hatte in erster Instanz keinen Erfolg. In der Berufung hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Hessen den Beklagten verurteilt, auf den Arbeitszeitkonten der Klägerinnen eine Zeitgutschrift vorzunehmen. Der Antrag der Klägerinnen auf Zahlung einer Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG wurde abgewiesen. Hiergegen legten die Klägerinnen Revision zum  BAG ein.

Der Achte Senat des BAG hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die einheitliche Auslöseschwelle für die Überstundenvergütung eine Schlechterstellung im Sinne von § 4 Nr. der Rahmenvereinbarung darstellt. Sollte dies der Fall sein, fragt es weiter, ob diese dadurch sachlich gerechtfertigt sein könnte, dass mit der Regelung das Ziel verfolgt wird, den Arbeitgeber von der Anordnung von Überstunden abzuhalten und eine Schlechterstellung von Vollzeitbeschäftigten zu vermeiden.

Das BAG hat zudem erfragt, ob die strittige Regelung zur Überstundenvergütung auch nach Art. 157 AEUV und Art. 2 Abs. 1 Buchst. b und Art. 4 der Richtlinie 2006/54 eine Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten darstellt. Sollte dies der Fall sein und die Benachteiligung mehr teilzeitbeschäftigte Frauen als Männer betreffen, möchte das BAG wissen, ob es für eine mögliche Benachteiligung wegen des Geschlechts auf die Höhe Frauenanteils unter den Vollzeitbeschäftigten ankommt.

Entscheidung

Der EuGH stellt zu den Vorlagefragen Folgendes fest:

Die streitige Regelung des § 10 Ziff. 7 MTV, die eine einheitliche Auslösegrenze für Überstundenzuschläge vorsieht, führe zu einer Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten im Sinne des § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung. Denn § 4 Nr. 1 Rahmenvereinbarung verbiete mit dem Ziel der Förderung von Teilzeit und der Vermeidung von Ungleichbehandlung von Teil- und Vollzeitbeschäftigten eine „schlechtere“ Behandlung von Vollzeitkräften, sofern diese Schlechterbehandlung nicht durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist. Dabei seien auch Mehrvergütungen Beschäftigungsbedingungen im Sinne des § 4 Rahmenvereinbarung.

Obere Feststellung gelte vorbehaltlich der Feststellung des vorlegenden Gerichts, dass die Situation der Teilzeitbeschäftigten mit denen der Vollzeitbeschäftigten vergleichbar sei. Die Vergleichbarkeit unterstellend erscheine die Vergütung von Voll- und Teilzeitkräften zwar insofern gleich, als der Anspruch auf einen Überstundenzuschlag für alle Beschäftigen erst mit der Überschreitung der Grenze von 38,5 Wochenarbeitsstunden entsteht. Jedoch erhalten Vollzeitbeschäftigte ab der ersten Stunde über ihrer regelmäßigen Arbeitszeit den entsprechenden Überstundenzuschlag. Teilzeitbeschäftigte müssen somit weit mehr als ihre individuelle regelmäßige Arbeitszeit arbeiten, um den Zuschlag zu erhalten. Dies stelle eine größere Belastung für Teilzeitbeschäftigte und eine Ungleichbehandlung dar. Teilzeitbeschäftigte müssten nach dem pro rata temporis-Grundsatz in § 4 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung proportional angepasst das gleiche Entgelt erhalten.

Diese Ungleichbehandlung sei auch nicht aus sachlichen Gründen gerechtfertigt. Die Regelung des § 10 MTV sei nicht geeignet, Überstundenanordnungen durch Arbeitgeber einzuschränken, sondern bewirke für Teilzeitkräfte das Gegenteil.  Arbeitgeber würden nämlich dazu veranlasst, in erster Linie Teilzeitbeschäftigte zu Überstunden heranzuziehen, da diese bis zum Erreichen der 38,5 Wochenstunden finanziell günstiger sind als Vollzeitbeschäftigte. Das zweite vorgetragene Ziel beruhe auf der fehlerhaften Prämisse, dass es eine Schlechterstellung von Vollzeitkräften bedeuten würde, Teilzeitkräften Mehrarbeitszuschläge zu zahlen. Diese Prämisse sei fehlerhaft, da Vollzeitbeschäftigte in diesem Fall in Bezug auf Überstunden gleichbehandelt würden wie Teilzeitbeschäftigte, vorbehaltlich der Anwendung des pro rata temporis-Grundsatzes.

Die Regelung könne zudem eine mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts darstellen, wenn erwiesen ist, dass sie einen signifikant höheren Anteil von Personen weiblichen Geschlechts als Personen männlichen Geschlechts benachteiligt, wobei unerheblich sei, ob die Gruppe der durch die Regelung nicht benachteiligten Personen (Vollzeitkräfte) auch überwiegend aus Frauen bestehe. Dies habe das vorlegende Gericht nun zu prüfen.  

Bezüglich der denkbaren Rechtfertigung weißt der EuGH darauf hin, dass es hier bereits bezüglich der Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten an einem rechtfertigenden sachlichen Grund fehlt.

Bewertung

Die Frage nach Ansprüchen von Teilzeitbeschäftigten auf Zahlung von „Überstundenzuschlägen“ ist seit Jahren höchst umstritten und einzelfallabhängig. Das zeigt sich insbesondere auch daran, dass das BAG diesbezüglich seit Jahren keine einheitliche Linie findet, sondern je nach Senat zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangt.

Auch im Bereich der AVR zwingt die unklare Rechtslage Träger und Einrichtungen zum Teil dazu, sich mit individuellen Einzelfalllösungen einzurichten. Verstärkt wird die Praxisrelevanz dadurch, dass die Teilzeitquote im Bereich der Caritas laut der Befragung zum Caritaspanel 2022 bei 62,0 Prozent liegt.

Der EuGH bekräftigt nun seine mit dem Lufthansa CityLine-Urteil getroffene Einschätzung bezüglich der einheitlichen Auslösegrenze für Überstundenzuschläge für Voll- und Teilzeitbeschäftigte (vgl. EuGH: Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten durch Überstundenvergütungsregelung). Sah schon das Lufthansa CityLine-Urteil eine Rechtfertigung der Schlechterbehandlung als höchst zweifelhaft an, findet der EuGH bezüglich der Rechtfertigung dieses Mal noch deutlichere Worte und stellt fest, dass die vorgetragenen Gründe nicht geeignet sind, die Schlechterbehandlung zu rechtfertigen. Insbesondere hält der EuGH an der Anwendung des pro rata temporis-Grundsatzes in diesem Fall fest, den das BAG in Tarifsystemen wie dem TVöD-K zuletzt für nicht ausschlaggebend hielt.

Das Urteil des EuGH könnte auch Konsequenzen für die AVR haben. Die einschlägigen AVR-Regelungen ähneln dem streitgegenständlichen Tarifvertrag. Die AVR unterscheiden zwischen (zuschlagspflichtigen) Überstunden und nicht zuschlagspflichtiger Mehrarbeit. Um letztere handelt es sich bei angeordneten und ungeplanten Arbeitsstunden, die über die individuell vereinbarte Wochenarbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten hinausgehen, ohne dass dabei die wöchentliche Regelarbeitszeit von Vollzeitkräften überschritten wird. Überstunden sind dagegen ungeplante, vom Dienstgeber angeordnete Arbeitsstunden, die über die wöchentliche Regelarbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden.

Überstunden, die Zeitzuschläge auslösen können, entstehen also nur dann, wenn die geleisteten Arbeitsstunden nicht in den vorgesehenen bzw. vereinbarten Ausgleichszeiträumen ausgeglichen werden. Von erheblicher Bedeutung für den Caritasbereich sind auch die Feststellungen des EuGH zur möglichen Diskriminierung wegen des Geschlechts durch die Regelung. Laut Caritaspanel sind 77,5 Prozent der Beschäftigten weiblich.

Wie beim Lufthansa-CityLine-Urteil gilt es für Dienstgeber zunächst Ruhe zu bewahren. Auch in dieser Sache hat nun der vorlegende Senat des BAG unter Beachtung der Feststellungen des EuGH zu entscheiden. Diese Entscheidung gilt es abzuwarten, bevor sichere Schlüsse für die AVR-Praxis gezogen werden können. Bis wir hier Rechtssicherheit haben, sollten aktuelle Streitfälle zu dem Thema nach Möglichkeit „ruhend gestellt“ werden. Zur Vermeidung derartiger Problemkonstellationen sollte vermehrt darauf geachtet werden, auch angefallene Mehrarbeit innerhalb der vorgesehenen Ausgleichszeiträume abzubauen, sodass ein Zuschlagsanspruch auch unter Zugrundelegung der EuGH-Feststellungen nicht entstehen würde.

Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 29.07.2024, C 184/22

Rechtsprechung

Autor/-in: Yolanda Thau, Laura Weber-Rehtmeyer

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