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EuGH: Diskriminierung von Teilzeit­beschäftigten durch Über­stunden­vergütungs­regelung

Eine einheitliche zusätzliche Vergütung von Mehrflugstunden durch eine identische Auslösegrenze für Voll- und Teilzeitbeschäftigte stellt eine ungerechtfertigte Schlechterbehandlung von Teilzeitbeschäftigten dar.

Sachverhalt

Das Bundesarbeitsgericht hat dem EuGH durch ein Vorabentscheidungsersuchen zwei Fragen zu § 4 der Rahmenvereinbarung zur Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG (Rahmenvereinbarung) vorgelegt. Das BAG hat in einem Rechtsstreit zwischen einem Flugzeugführer und seiner Arbeitgeberin, der Lufthansa CityLine GmbH, zu entscheiden. Der Kläger ist seit 2010 in Teilzeit (90 Prozent) bei der Beklagten beschäftigt und erhält eine um 10 Prozent geringere Grundvergütung als ein Vollzeitbeschäftigter und zusätzlich 37 freie Tage im Jahr. Laut einschlägigem Tarifvertrag steht dem Kläger erst eine Mehrflugstundenvergütung zu, wenn er dieselbe Flugdienststunde wie vollzeitbeschäftige Kollegen geleistet hat; die Stundenanzahl hierzu wurde nicht um 10 Prozent entsprechen seiner Teilzeitbeschäftigung verringert. Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte müssen für die Mehrflugstundenvergütung dieselbe Zeit fliegen, es wird dieselbe Auslösegrenze angewandt. Der Kläger verlangt nun den Mehrflugstundenzuschlag nach Maßgabe seiner Teilzeitbeschäftigung.

Das BAG legte zu diesem Rechtsstreit dem EuGH die Frage vor, ob die einheitliche Mehrflugstundenvergütung von Voll- und Teilzeitbeschäftigen für letztere gemäß § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung eine Schlechterbehandlung darstelle. Wenn dies der Fall sein sollte, stellte das BAG die Frage, ob diese Schlechterbehandlung mit § 4 Nr. 1 und dem Pro-rata-temporis-Grundsatz in § 4 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung vereinbar sei, wenn mit der zusätzlichen Vergütung der Zweck verfolgt wird, eine besondere Arbeitsbelastung auszugleichen.

Entscheidung

Der EuGH hat die Anwendbarkeit der Rahmenvereinbarung auf den zugrunde liegenden Rechtsstreit bejaht. Das in § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung aufgestellte Diskriminierungsverbot ist spezifischer Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes, einem tragenden Unionsrechtsgrundsatz. Die Rahmenvereinbarung soll Teilzeitarbeit fördern und die Ungleichbehandlung von Teil- und Vollzeitbeschäftigung beseitigen. Genau deswegen verbietet es § 4 Nr. 1 Arbeitnehmer nur aufgrund der Teilzeitbeschäftigung gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten „schlechter“ zu behandeln, es sei denn, dies ist aus sachlichen Gründen gerechtfertigt. Auch Mehrvergütungen fallen unter den Begriff der Beschäftigungsbedingungen nach § 4 der Rahmenvereinbarung. Im vorliegenden Fall waren die Teilzeitbeschäftigten mit Vollzeitbeschäftigten vergleichbar, sie nahmen die gleichen Aufgaben wahr. Beide wurden bis zur Auslösegrenze gleich vergütet, aber die Teilzeitbeschäftigten müssen mehr Flugstunden für die Mehrflugstundenvergütung absolvieren als ihre vergleichbaren Kollegen in Vollzeit, da für sie dieselben Auslösegrenzen gelten. Damit erfüllen die Teilzeitbeschäftigen deutlich seltener die Voraussetzung für die zusätzliche Vergütung als vergleichbare Vollzeitbeschäftigte und also ist davon auszugehen, dass sie eine ungleiche, „schlechtere“ Behandlung erfahren.

Diese ungleiche Behandlung ist nach § 4 Nr. 1 Rahmenvereinbarung verboten, es sei denn sie ist aufgrund eines sachlichen Grundes gerechtfertigt. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH kann sich ein „sachlicher Grund“ nach § 4 Nr. 1 Rahmenvereinbarung jedenfalls nicht daraus ergeben, dass die unterschiedliche Behandlung in einer allgemeinen, abstrakten innerstaatlichen Norm wie einem Gesetz oder einem Tarifvertrag vorgesehen ist. Es bedarf vielmehr genau bezeichneter, konkreter Umstände als Rechtfertigung, die die betreffende Beschäftigungsbedingung in ihrem speziellen Zusammenhang und auf der Grundlage objektiver und transparenter Kriterien kennzeichnen, um sichergehen zu können, dass die unterschiedliche Behandlung einem echten Bedarf entspricht und zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist. Solche Umstände können sich etwa aus der besonderen Art der Aufgaben, zu deren Erfüllung Teilzeitverträge geschlossen wurden, und ihren Wesensmerkmalen oder gegebenenfalls aus der Verfolgung eines legitimen sozialpolitischen Ziels durch einen Mitgliedstaat ergeben. Ob die vorgetragenen Gesundheitsgründe hier diesen Anforderungen genügen, sieht der EuGH als zweifelhaft an, hier dürften seiner Auffassung nach, andere Maßnahmen zur Zielerreichung angemessener und kohärenter sein. Eine einheitliche Auslösegrenze für die zusätzliche Vergütung scheint eher die Fluggesellschaften dazu zu verleiten die Teilzeitbeschäftigten zu Überstunden heranzuziehen. Deswegen sind § 4 Nr. 1 und Nr. 2 der Rahmenvereinbarung dahin auszulegen, dass sie einer einheitlichen Auslösegrenze für Voll- und Teilzeitbeschäftigte entgegenstehen.

Bewertung

Der Entscheidung steht im starken Kontrast zu den bisherigen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts, wonach Teilzeitbeschäftigte keinen Anspruch auf Überstundenzuschläge für geleistete Arbeitsstunden haben, die dazu führen, dass die vertragliche Arbeitszeit, aber noch nicht die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von Vollbeschäftigten überschritten wird (vgl. Az. 6 AZR 253/19, 6 AZR 254/19, 6 AZR 332/19).

Das Urteil des EuGH könnte auch Konsequenzen für die AVR-Praxis haben. Die AVR-Regelungen ähneln dem streitgegenständlichen Tarifvertrag: In § 5 Abs. 5 und 6 Anlage 30 AVR sowie in § 4 Abs. 7 und 8 Anlagen 31 bis 33 AVR ist der Anspruch auf Zeitzuschläge ebenfalls an ein Überschreiten der für Vollzeitkräfte geltenden Schwelle an zu leistenden Arbeitsstunden geknüpft. Zeitzuschläge werden jedoch nur fällig, wenn die geleisteten Arbeitsstunden nicht in den vorgesehenen bzw. vereinbarten Ausgleichszeiträumen ausgeglichen werden. Eine ähnliche Definition der Überstunden und Anknüpfung der Zeitzuschläge findet sich auch in 6 und 6a zu den AVR, danach liegen auch nur Überstunden vor, die zu Zeitzuschlägen bei Nichtausgleich führen, wenn angeordnete Arbeitsstunden geleistet wurden, die über regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit nach § 1 der Anlage 5 zu den AVR hinausgehen, es wird also auch an Vollzeitarbeitszeiten angeknüpft. Diese Anlagen betreffen insbesondere die Beschäftigten der Anlagen 2. Das BAG hat den Fall nun im Lichte des EuGH-Urteils zu entscheiden. Für Aussagen über mögliche Auswirkungen in der Praxis muss die Entscheidung der Erfurter Richter abgewartet werden.

Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 19.10.2023 (C 660/20)

Rechtsprechung

Autor/-in: Laura Weber-Rehtmeyer

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