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BVerfG: Entscheidung in der Sache „Egenberger“

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wird anerkannt – das Bundesarbeitsgericht bekommt Hausaufgaben.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in einem heute veröffentlichten Beschluss, nach sieben Jahren, über die Verfassungsbeschwerde des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung e.V. (EWDE) entschieden und dieser Verfassungsbeschwerde stattgegeben. Der Zweite Senat des BVerfG hat das im Streit stehende Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aufgehoben und die Sache an das BAG zurückverwiesen.

Der Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts war ein Rechtsstreit zwischen der konfessionslosen Vera Egenberger und dem EWDE vorausgegangen, bei dem sich Frau Egenberger nach erfolgloser Bewerbung auf eine Diskriminierung wegen ihrer Konfessionslosigkeit berufen hatte. Der Rechtsstreit durchlief alle deutschen Instanzen und ging sogar bis zum EuGH. Im Kern geht es um die Frage, wie das verfassungsrechtlich gewährleistete Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und das europäisch determinierte Antidiskriminierungsrecht miteinander in Einklang gebracht werden können. Mit der heutigen Entscheidung des BVerfG ist der Rechtsstreit noch nicht beendet. Das BAG wird erneut über den Fall entscheiden müssen.

„Wir freuen uns, dass das BVerfG mit seiner heutigen Entscheidung dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen Nachdruck verliehen hat.“

Johannes Brumm
Sprecher der Dienstgeberseite

1. Die Vorgeschichte des Rechtsstreits

Vera Egenberger hatte sich im November 2012 auf eine vom EWDE ausgeschriebene Referentenstelle für ein Projekt, das die Erstellung eines Berichts zu einem UN-Übereinkommen zur Beseitigung von rassistischer Diskriminierung zum Gegenstand hatte, beworben. Das Aufgabengebiet umfasste neben der Erarbeitung des Berichts und der Erarbeitung von Stellungnahmen und Fachbeiträgen auch die projektbezogene Vertretung der Diakonie Deutschland gegenüber Politik, der Öffentlichkeit und Menschenrechtsorganisationen sowie die Mitarbeit in Gremien, die Information und Koordination des Meinungsbildprozesses im Verbandsbereich und die Organisation, Verwaltung und Sachberichtserstattung zum Arbeitsbereich. Für diese Aufgabe wurde in der Stellenausschreibung eine Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK (Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland) angehörenden Kirche verlangt.

Nachdem sie nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden war, erhob Frau Egenberger Klage auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Höhe von knapp 10.000 Euro, weil sie sich im Zusammenhang mit ihrer Konfessionslosigkeit im Hinblick auf ihre Religion und Weltanschauung diskriminiert sah.

2. Der Rechtsstreit in den verschiedenen Instanzen

Das Arbeitsgericht Berlin gab der Klage statt, begrenzte jedoch die Höhe der Entschädigung auf knapp 2.000 Euro. Das Landesarbeitsgericht Berlin/Brandenburg hob als Berufungsgericht das Urteil mit der Begründung auf, dass die Ungleichbehandlung gemäß § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG zulässig sei. Daher sei eine Diskriminierung der Klägerin nicht gegeben.

Das BAG als Revisionsinstanz stellte sich auf den Standpunkt, dass im vorliegenden Fall das Verhältnis zwischen europarechtlich determiniertem Antidiskriminierungsrecht und dem Recht der Kirchen auf Selbstbestimmung genauer abgegrenzt werden müsse. Das BAG setzte den Rechtsstreit daher aus und legte dem EuGH insbesondere die Frage vor, ob Art. 4 Abs. 2 der Antidiskriminierungsrichtlinie (RL 2000/78/EG), wo es heißt:

„Die Mitgliedstaaten können in Bezug auf Tätigkeiten innerhalb von Kirchen (…), Bestimmungen (…) vorsehen, (…) wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion (…) nach Art dieser Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt.“

dahin auszulegen sei, dass ein kirchlicher Dienstgeber verbindlich selbst bestimmen kann, ob die Konfessionszugehörigkeit eines Bewerbers „nach der Art der Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt“. Mit anderen Worten wollte das BAG wissen, ob eine Kirche verbindlich selbst bestimmen kann, bei welchen beruflichen Tätigkeiten die Religion eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt. Außerdem wollte das BAG vom EuGH wissen, welche Anforderungen sodann an die Art der Tätigkeit oder die Umstände ihrer Ausübung als wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung zu stellen seien. 

In seinem Urteil vom17. April 2018 (C-414/16) stellte der EuGH fest, dass Art. 4 Abs. 2 der RL 2000/78/EG einen Ausgleich zwischen dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht und dem Recht der Arbeitnehmer, nicht wegen ihrer Religion diskriminiert zu werden, bezwecke. Deshalb müsse in Fällen, wie dem vorliegenden, vom Dienstgeber eine Abwägung zwischen den beiden genannten Rechten vorgenommen werden und diese müsse von nationalen Gerichten auch überprüfbar sein. Eine Kirche, die einen Stellenbewerber mit Hinweis auf die fehlende Konfessionszugehörigkeit ablehnt, müsse diese Begründung also gerichtlich überprüfen lassen. Allerdings hat der EuGH in seinem Urteil den nationalen Gerichten einen breiten Beurteilungsspielraum eröffnet, indem er betonte, dass eine Ungleichbehandlung von konfessionell gebunden und konfessionell ungebundenen Bewerbern eventuell keine Diskriminierung sei, wenn die Konfessionszugehörigkeit auch in Dienstverhältnissen mit weltlichem Charakter einer glaubwürdigen Vertretung der Kirche oder Religionsgemeinschaft nach außen dient.

Diesen breiten Beurteilungsspielraum nutze das BAG in seinem abschließenden Urteil vom 25. Oktober 2018 (8 AZR 501/14) nicht. In seinem Urteil prüft das BAG, ob eine Diskriminierung der Klägerin gemäß § 9 Abs. 1, 2. Alt AGG ausscheidet, also weil die Konfessionszugehörigkeit eine nach der Art der Tätigkeit wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt. Obwohl der EuGH in seinem Urteil ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet hatte, diese Frage bei Tätigkeiten mit Außenwirkung zu bejahen, verneint das BAG dies in seinem Urteil. Nach Ansicht des 8. Senats handele es sich bei der in Rede stehenden Tätigkeit zwar um eine Tätigkeit, in der die christlichen Positionen der Beklagten glaubwürdig nach außen zu tragen seien, jedoch komme es hierbei nicht notwendigerweise auf eine Konfessionszugehörigkeit an. Der Stelleninhaber habe auch die Möglichkeit, sich über die verfassungsrechtlichen, völkerrechtlichen und unionsrechtlichen Positionen der evangelischen Kirche und des Diakonischen Werks der EKD unterrichten zu lassen. Mit dieser Begründung gab das BAG der Klage von Vera Egenberger zumindest teilweise statt.

3. Die Verfassungsbeschwerde des EWDE

Gegen das Urteil des BAG und mittelbar gegen die Entscheidung des EuGH erhob das EWDE noch im gleichen Jahr Verfassungsbeschwerde zum BVerfG. In einem Blog-Beitrag aus dem Jahr 2019 teilte der Präsident des Diakonischen Werks der EKD mit, dass das BVerfG klären solle, ob durch die genannten Urteile unzulässig in das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen eingegriffen wird. Ferner solle es vor dem BVerfG auch darum gehen, klären zu lassen, inwieweit Kirchen und Religionsgemeinschaften hinnehmen müssen, dass theologische Kernfragen, die das kirchliche Selbstverständnis betreffen, von Juristen entschieden werden, denen der entsprechende theologische Hintergrund fehlt.

4. Der Beschluss des BVerfG vom 23. Oktober 2025

Der Zweite Senat des BVerfG erkennt in seinem Beschluss das vorangegangene Urteil des EuGH ausdrücklich an und legt dar, dass der EuGH im Rahmen seiner Kompetenzen so entschieden hatte, dass er den nationalen Gerichten bei der Überprüfung dienstgeberischer Entscheidungen zur Einstellung konfessionell gebundener bzw. konfessionell ungebundener Bewerber einen breiten Beurteilungsspielraum eingeräumt habe. Diesen Beurteilungsspielraum habe das BAG in seinem Urteil aus dem Jahr 2018 jedoch nicht ausgeschöpft. Damit verletze das BAG das EWDE als Beschwerdeführer in seinem religiösen Selbstbestimmungsrecht.

Im Einzelnen legt das BVerfG dar, dass das BAG nicht hinreichend berücksichtigt habe, dass Art. 4 Abs. 2 Gleichbehandlungsrichtlinie (RL EU 2000/78/EG) dem nationalen Recht Spielräume belässt, innerhalb derer die grundrechtlichen Vorgaben des religiösen Selbstbestimmungsrechts gelten. Das BAG habe in seiner Entscheidung den hohen Wert des religiösen Selbstbestimmungsrechts nicht ausreichend berücksichtigt. Es habe vielmehr sein eigenes Verständnis einer glaubwürdigen Vertretung des kirchlichen Ethos nach außen an die Stelle des Verständnisses des EWDE gestellt und sich daher nicht auseichend mit dem Verständnis des EWDE auseinandergesetzt. Aufgrund dieser unzureichenden Berücksichtigung des christlichen Profils des EWDE habe das BAG die Vorgaben des § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG unberechtigt eng angewendet, also deutlich strenger, als vom EuGH gefordert. Indem das Gericht seine Sicht auf die ausgeschriebene Tätigkeit und deren Zusammenhang mit der Kirchenmitgliedschaft an die Stelle der Sicht des Beschwerdeführers setzt, werde das Interesse des Beschwerdeführers nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise gewichtet.

Insbesondere die vom BAG geäußerten erheblichen Zweifel daran, dass die vom Beschwerdeführer geforderte berufliche Anforderung der Zugehörigkeit zu einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche „wesentlich“ im Sinne von § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG sei, ließen die gebotene Einbeziehung des religiösen Selbstbestimmungsrechts des Beschwerdeführers nicht erkennen. Auch soweit das BAG ausführe, dass die vom Beschwerdeführer formulierte berufliche Anforderung nicht gerechtfertigt sei, trage es dem religiösen Selbstbestimmungsrecht des EWDE nicht ausreichend Rechnung.

Damit war das Urteil aufzuheben und an das BAG zurückzuverweisen.

5. Bewertung

Der Beschluss des BVerfG ist uneingeschränkt zu begrüßen. Dem obersten deutschen Gericht gelingt es in überzeugender Weise einerseits die Rechtsprechung des EuGH zu respektieren, der dem Recht auf religiöse Selbstbestimmung einen deutlich geringeren Stellenwert beimisst, als es das BVerfG traditionell handhabt. Andererseits lässt der Beschluss erkennen, wie intensiv sich das BVerfG mit der Argumentation des BAG auseinandergesetzt hat, dessen Auslegung von § 9 Abs. 1 AGG in der Literatur größtenteils als deutlich zu eng kritisiert wurde.

Die Frage nach der praktischen Bedeutung des BVerfG-Beschlusses muss man geteilt beantworten.

Auf der einen Seite hat der Beschluss eine nicht zu unterschätzende Bedeutung im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände. Sowohl für das kirchliche Selbstbestimmungsrecht als auch für das System des Dritten Wegs ist der Beschluss von enormer Bedeutung. Auf der anderen Seite haben sowohl die katholische Kirche als auch die evangelischen Kirchen in Deutschland in den letzten Jahren ihre arbeitsrechtlichen Regelwerke weiterentwickelt. Die Neue Grundordnung der katholischen Kirche aus dem Jahr 2022 (GrO) hält nicht länger am unbedingten Grundsatz der Kirchenmitgliedschaft für ein Dienstverhältnis fest. Aber gerade vor diesem Hintergrund ist es für die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände von herausragender Bedeutung, dem eigenen Leitbild als Dienstgemeinschaft zu genügen. Der heutige Beschluss des BVerfG erleichtert es den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden, mit der eigenen Einstellungspolitik das Gepräge als christliche Dienstgemeinschaften nach außen und innen glaubhaft zu verwirklichen.

BVerfG, Beschluss vom
23. Oktober 2025, Az.: 2
BvR 934/19

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