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BAG: Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten bei tarifvertraglichen Überstundenzuschlägen

Das BAG hat am 5. Dezember 2024 über die Frage entschieden, ob eine tarifvertragliche Regelung, die unabhängig von der individuellen Arbeitszeit für Überstundenzuschläge das Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten voraussetzt, teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer diskriminiert.

1. Sachverhalt

Der Beklagte ist ein ambulanter Dialyseanbieter. Die Klägerin ist bei ihm als Pflegekraft in Teilzeit im Umfang von 40 v.H. eines Vollzeitbeschäftigten tätig. Auf das Arbeitsverhältnis findet aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme der zwischen dem Beklagten und der Gewerkschaft ver.di geschlossene Manteltarifvertrag (MTV) Anwendung. Nach § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV sind Überstunden mit einem Zuschlag von 30 v.H. zuschlagspflichtig, wenn diese über die monatliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers hinaus geleistet werden und im jeweiligen Kalendermonat nicht durch Freizeitgewährung ausgeglichen werden können. Alternativ zu einer Auszahlung des Zuschlags ist eine entsprechende Zeitgutschrift im Arbeitszeitkonto vorgesehen. Das Arbeitszeitkonto der Klägerin wies Ende März 2018 ein Arbeitszeitguthaben von 129 Stunden und 24 Minuten aus. Der Beklagte hat der Klägerin für diese Zeiten in Anwendung von § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV weder Überstundenzuschläge gezahlt noch im Arbeitszeitkonto eine Zeitgutschrift vorgenommen. Dagegen erhob die Klägerin Klage und verlangte, ihrem Arbeitszeitkonto weitere 38 Stunden und 39 Minuten als Überstundenzuschläge gutzuschreiben. Ferner klagte die Klägerin auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Höhe eines Vierteljahresverdienstes. Nach Ansicht der Klägerin benachteilige die Anwendung von § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV sie wegen ihres Teilzeitarbeitsverhältnisses unzulässig gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten. Zugleich werde sie wegen ihres Geschlechts mittelbar benachteiligt, denn der Beklagte beschäftige überwiegend Frauen in Teilzeit.

Das Arbeitsgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klägerin die verlangte Zeitgutschrift zuerkannt und hinsichtlich der begehrten Entschädigung die Klageabweisung bestätigt. Gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts richtete sich die Revision der Klägerin zum Bundesarbeitsgericht. Mit Beschluss vom 28. Oktober 2021 setzte der Senat das Revisionsverfahren aus und legte dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) insgesamt fünf Fragen zur Vorabentscheidung vor. Mit Urteil vom 29. Juli 2024 entschied der EuGH, dass eine einheitliche Schwelle für Überstundenzuschläge Teilzeitbeschäftigte diskriminiert – unter Umständen auch wegen ihres Geschlechts.

Den Bericht zur Entscheidung des EuGH finden Sie hier.

2. Entscheidung des BAG

Im Anschluss an die Vorabentscheidung des EuGH hatte die Revision der Klägerin vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts teilweise Erfolg. Der Senat sprach der Klägerin die verlangte Zeitgutschrift zu und erkannte ihr darüber hinaus eine Entschädigung i.H.v. 250,00 Euro zu. Der Senat ging davon aus, dass § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV wegen Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten unwirksam ist, da er bei Teilzeitbeschäftigung keine der Teilzeitquote entsprechende anteilige Absenkung der Grenze für die Gewährung eines Überstundenzuschlags vorsieht. Einen sachlichen Grund für diese Ungleichbehandlung konnte der Senat nicht erkennen. Die sich aus dem Verstoß gegen § 4 Abs. 1 TzBfG ergebende Unwirksamkeit der tarifvertraglichen Überstundenzuschlagsregelung führt zu einem Anspruch der Klägerin auf die eingeklagte weitere Zeitgutschrift. Daneben war ihr eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zuzuerkennen. Durch die Anwendung der tarifvertraglichen Regelung hat die Klägerin auch eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts erfahren. In der Gruppe der beim Beklagten in Teilzeit Beschäftigten, die dem persönlichen Anwendungsbereich des MTV unterfallen, sind zu mehr als 90 v.H. Frauen vertreten. Als Entschädigung setzte der Senat einen Betrag i.H.v. 250,00 Euro fest. Diesen sah der Senat einerseits als erforderlich, andererseits aber auch als ausreichend an, um den der Klägerin durch die mittelbare Geschlechtsbenachteiligung entstandenen immateriellen Schaden auszugleichen und darüber hinaus gegenüber dem Beklagten die gebotene abschreckende Wirkung zu entfalten.

3. Erste Einordnung

Nach der Entscheidung des EuGH kommt das heutige Urteil des BAG wenig überraschend. Die Entscheidung ist deutlich: Eine einheitliche Auslöseschwelle für Überstundenzuschläge für Voll- und Teilzeitbeschäftigte stellt eine ungerechtfertigte Schlechterstellung von Teilzeitbeschäftigten dar. Auch kann sie Frauen mittelbar diskriminieren, wenn mehr Frauen durch die Regelung benachteiligt werden als Männer. Damit stellt das BAG klar, dass auch bei der Frage der Überstundenzuschläge der pro rata temporis-Grundsatz zum Tragen kommt.

Das Urteil könnte auch Konsequenzen für Anwender der AVR Caritas haben. Die einschlägigen Regelungen der AVR Caritas unterscheiden zwischen (zuschlagspflichtigen) Überstunden und nicht zuschlagspflichtiger Mehrarbeit. Um letztere handelt es sich bei angeordneten und ungeplanten Arbeitsstunden, die über die individuell vereinbarte Wochenarbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten hinausgehen, ohne dass dabei die wöchentliche Regelarbeitszeit von Vollzeitkräften überschritten wird. Überstunden sind dagegen ungeplante, vom Dienstgeber angeordnete Arbeitsstunden, die über die wöchentliche Regelarbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden.

Zukünftig sollte daher zur Vermeidung von Zuschlägen verstärkt darauf geachtet werden, angefallene Mehrarbeit innerhalb der vorgesehenen Ausgleichszeiträume abzubauen, sodass ein Zuschlagsanspruch auch unter Zugrundelegung des Urteils des BAG nicht entsteht. Zur weiteren Bewertung und Folgeneinschätzung der Entscheidung – gerade auch für den Bereich der AVR Caritas – sind die Urteilsgründe abzuwarten, mit denen in einigen Monaten zu rechnen ist.

BAG (Bundesarbeitsgericht), Urteil vom 5. Dezember 2024, 8 AZR 370/20

Rechtsprechung

Autor/-in: Marc Riede Florido Martins

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