BAG: Einheitliche Schwelle für Überstundenzuschläge diskriminiert Teilzeitkräfte
Sachverhalt
Die Klägerin ist als Pflegekraft bei einem ambulanten Dialyseanbieter (Beklagter) in Teilzeit (40 Prozent) tätig. Auf das Arbeitsverhältnis findet ein zwischen dem Beklagten und der Gewerkschaft ver.di abgeschlossener Haustarifvertrag (im Folgenden MTV genannt) Anwendung. Nach dem MTV werden Überstunden als „auf Anordnung geleistete Arbeitsstunden, die über die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit hinausgehend dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich geleistet werden“ definiert. Zuschläge (in Höhe von 30 Prozent) sieht der MTV sodann für solche Überstunden vor, die über die kalendermonatliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers hinaus geleistet werden und die im jeweiligen Kalendermonat der Arbeitsleistung nicht durch Freizeitgewährung ausgeglichen werden können. Alternativ kann eine entsprechende Zeitgutschrift in Höhe des Überstundenzuschlags auf dem Arbeitszeitkonto erfolgen.
Das Arbeitszeitkonto der Klägerin wies ein Guthaben von fast 130 Stunden aus. Die Klägerin verlangte eine den Zuschlägen entsprechende Zeitgutschrift sowie die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Sie vertrat die Auffassung, dass die tarifvertragliche Regelung sie wegen ihres Teilzeitarbeitsverhältnisses unzulässig gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten benachteilige. Außerdem werde sie mittelbar aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt, da der Beklagte überwiegend Frauen in Teilzeit beschäftige.
Entscheidung
Mit Beschluss vom 28. Oktober 2021 legte das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Sache dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Vorabentscheidung vor. Im Anschluss an die Entscheidung des EuGH (Urteil vom 29.07.2024, C-184/22, C-185/22) urteilte das BAG, dass die Klägerin sowohl einen Anspruch auf die Zeitgutschrift als auch einen Anspruch auf eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG, in diesem Fall in Höhe von 250 Euro, habe.
Die Überstundenregelung des MTV stellt nach Ansicht des EuGH, und dem folgend des BAG, einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot von Teilzeitbeschäftigten gemäß § 4 Abs. 1 TzBfG iVm mit § 4 Nr. 1 und Nr. 2 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit (Anhang RL 97/81/EG) dar.
Nach diesen Regelungen dürfen Teilzeitbeschäftigte wegen der Teilzeit nicht schlechter behandelt werden als vergleichbare Vollzeitbeschäftigte - es sei denn, sachliche Gründe rechtfertigen eine unterschiedliche Behandlung. Soweit Teilzeitbeschäftigte nach der Regelung des MTV unabhängig von ihrer individuellen regelmäßigen Arbeitszeit die gleiche Anzahl an Stunden arbeiten müssen wie vergleichbare Vollzeitbeschäftigte, um Überstundenzuschläge zu erhalten, ist der MTV nach dem Urteil des BAG unwirksam. Zur Begründung führt das Gericht Folgendes aus: Die Teilzeitpflegekräfte seien mit den dortigen Vollzeitpflegekräften nach Art und Inhalt des Arbeitsverhältnisses vergleichbar. Im Vergleich zu den Vollzeitbeschäftigten könnten sie aber die für die Zahlung von Zuschlägen erforderliche Anzahl an Arbeitsstunden nicht oder nur mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit erreichen. Für den Vergleich sei auf jeden einzelnen Entgeltbestandteil getrennt abzustellen. Danach belaste eine einheitliche Grenze für Zuschläge Teilzeitbeschäftigte mehr, da diese für einen Teil der Stunden, die sie über die vertraglich geschuldete Arbeitszeit hinaus erbringen, keine Zuschläge erhielten. Demgegenüber erhielten Vollzeitbeschäftigte Überstundenzuschläge bereits ab der ersten Arbeitsstunde, die die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit überschreite. Für diese Ungleichbehandlung gebe es in dem Fall auch keine Rechtfertigung durch sachliche Gründe. Für die Frage, ob die Ungleichbehandlung sachlich gerechtfertigt ist, sei nach Ansicht der Gerichte auf den Zweck der Leistung zu schauen. Dabei geben der EuGH und das BAG als Prüfungsmaßstab vor, dass „genau bezeichnete, konkrete Umstände vorliegen müssten, die die betreffende Arbeitsbedingung (hier die Überstundenzuschläge) in ihrem speziellen Zusammenhang und auf der Grundlage objektiver und transparenter Kriterien kennzeichneten.“ Die unterschiedliche Behandlung müsse einem „echten Bedarf entsprechen und zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich sein“.
Erklärtes Ziel des MTV im Hinblick auf die Überstundenzuschlagsregelung war zum einen, die Arbeitgeber von der Anordnung von Überstunden abzuhalten und zum anderen, eine Benachteiligung von Vollzeitbeschäftigten gegenüber Teilzeitbeschäftigten beim Entgelt zu verhindern. Letzterem Ziel lag die Überlegung des Beklagten zugrunde, dass es eine schlechtere Behandlung der Vollzeitbeschäftigten darstelle, wenn Teilzeitbeschäftigte bereits ab der ersten Stunde, die sie über ihre individuelle Arbeitszeit hinaus arbeiteten, Überstundenzuschläge erhielten. Außerdem sollte die Regelung laut des Beklagten die Arbeitnehmer vor übermäßiger körperlicher und/oder psychischer Belastung schützen, die nach Ansicht des Beklagten bei Überschreitung der Stundenzahl von Vollzeitbeschäftigten beginne.
Zu dem erstgenannten Ziel stellten die Richter fest, dass mit der in Rede stehenden Regelung das Gegenteil erreicht werde. Arbeitsstunden von Teilzeitbeschäftigten, die über deren vereinbarte Arbeitszeit hinausgingen, bedeuteten für den Arbeitgeber eine geringere finanzielle Belastung als die gleiche Anzahl der von Vollzeitbeschäftigten geleisteten Stunden. Die Regelung schaffe damit einen Anreiz für Arbeitgeber, Mehrarbeitsstunden eher bei Teilzeitbeschäftigten anzuordnen.
Bei dem zweitgenannten Ziel urteilten die Richter, dass es von einer falschen Prämisse ausgehe. Bei Anwendung des Pro-rata-temporis-Grundsatzes würden Vollzeitbeschäftigte in Bezug auf Überstundenzuschläge nämlich ebenso behandelt wie Teilzeitbeschäftigte.
Das von dem Beklagten behauptete Ziel, die Mitarbeitenden vor Überbelastung zu schützen, war nach Ansicht der Richter nicht im MTV festzumachen, weshalb in diesem Fall keine Feststellungen darüber getroffen worden sind, ob solch ein Ziel die Ungleichbehandlung rechtfertigen kann. In dem vorhergehenden Fall (EuGH 19. Oktober 2023, C-660/20 Lufthansa CityLine) hatte sich der EuGH zu solch einem Ziel geäußert. In dem Fall war der Kläger als Flugzeugführer in Teilzeit (90 Prozent) bei der Lufthansa CityLine GmbH beschäftigt. Auch nach der dortigen tarifvertraglichen Regelung bestand ein Anspruch auf eine über die Grundvergütung hinausgehende „Mehrflugdienststundenvergütung“ erst, wenn die Stunden eines vollzeitbeschäftigten Flugzeugführers überschritten waren. Die Lufthansa CityLine hatte sich ebenfalls darauf berufen, dass die Mehrflugdienststundenvergütung dazu diene, eine besondere Arbeitsbelastung mit Auswirkungen auf die Gesundheit der Flugzeugführer auszugleichen. Diese Arbeitsbelastung bestehe nach ihrer Ansicht erst, wenn die Auslösegrenze überschritten sei. Das BAG hatte auch diesen Fall dem EuGH vorgelegt, der auch in dieser Entscheidung die einheitliche Anknüpfung an die Anzahl von Arbeitsstunden von Vollzeitbeschäftigten für die Zahlung einer zusätzlichen Vergütung als schlechtere Behandlung der Teilzeitkräfte gewertet hat. Die von der Arbeitgeberin festgelegte Grenze basiere weder auf objektiv ermittelten Werten oder wissenschaftlichen Erkenntnissen noch beruhe sie auf allgemeinen Erfahrungswerten. Daher zweifelte der EuGH am Vorhandensein objektiver und transparenter Kriterien und damit an einem echten Bedarf für die unterschiedliche Behandlung. Zudem zweifelte er an der Angemessenheit und Kohärenz einer einheitlichen Grenze als Mittel für das Ziel, Flugzeugführer vor übermäßiger Belastung zu schützen. Etwaige individuelle Auswirkungen der Arbeitsbelastung oder etwaige außerberufliche Belastungen (die vielleicht Grund für die Teilzeit sind) seien nämlich mitzuberücksichtigen.
In dem nunmehr entschiedenen Fall sahen der EuGH und das BAG außerdem einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot gemäß § 7 Abs. 1 AGG. Da die Regelung des MTV nicht ausdrücklich an das Geschlecht anknüpfe, bewirke sie zwar keine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts gemäß § 3 Abs. 1 AGG, es liege aber eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts gemäß § 3 Abs. 2 AGG vor. Denn die Regelung wirke sich auf einen deutlich höheren Anteil von Frauen im Vergleich zu Männern aus. In der Gruppe der Teilzeitbeschäftigten waren Frauen mit einem Anteil von mehr als 90 Prozent vertreten. Die Regelung sei daher geeignet, Frauen gegenüber Männern zu benachteiligen. Hinsichtlich der Höhe der Entschädigung stellte das Gericht auf deren Zweck ab. Diese diene zum einen der Kompensation des immateriellen Schadens und zum anderen (unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes) der Prävention.
Bewertung
Die AVR Caritas sehen Überstundenregelungen in § 5 Abs. 5 und 6 Anlage 30 AVR, § 4 Abs. 7 und 8 Anlagen 31 bis 33 AVR sowie Anlage 6 und Anlage 6a AVR vor. Grundsätzlich wird in den AVR Caritas zwischen (zuschlagspflichtigen) Überstunden und (nicht zuschlagspflichtiger) Mehrarbeit unterschieden. Nicht zuschlagspflichtige Mehrarbeit sind angeordnete und ungeplante Arbeitsstunden, die über die individuell vereinbarte Wochenarbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten hinausgehen, ohne dass die wöchentliche Regelarbeitszeit von Vollzeitkräften überschritten wird. Dagegen sind zuschlagspflichtige Überstunden – genau wie im dem Urteil zugrunde liegenden Fall – ungeplante, vom Dienstgeber angeordnete Arbeitsstunden, die über die wöchentliche Regelarbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten hinausgehen und nicht in dem vorgesehenen Ausgleichszeitraum ausgeglichen werden.
Die Rechtsprechung des EuGH, und dem folgend des BAG, hat sich mit den letzten Entscheidungen dahingehend entwickelt, dass eine einheitliche Schwelle für die Zahlung von Überstunden bei Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten als eine die Teilzeitbeschäftigten benachteiligende Ungleichbehandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 TzBfG angesehen wird. Von den bislang vorgebrachten verschiedenen Gründen für die Ungleichbehandlung hat der EuGH bisher keinen als sachlichen Grund für eine Rechtfertigung anerkannt. Es ist damit zu rechnen, dass auch weitere Gründe für eine solche Ungleichbehandlung beim EuGH und dem folgend auch beim BAG „durchfallen“ werden. Es besteht daher ein nicht unerhebliches Risiko, dass Teilzeitkräfte unter Berücksichtigung der Ausschlussfristen des § 23 des Allgemeinen Teils der AVR (sechs Monate nach Fälligkeit) Überstundenzuschläge für solche Stunden einklagen könnten. Zur Vermeidung von Zeitschlägen muss in der Praxis daher verstärkt darauf geachtet werden, dass angefallene Mehrarbeit innerhalb der vorgesehenen Ausgleichszeiträume abgebaut wird.
Erhebliche Bedeutung haben die Entscheidungen des EuGH und des BAG außerdem zur möglichen Diskriminierung wegen des Geschlechts. Laut Caritaspanel sind ca. 80 Prozent der Beschäftigten bei der Caritas weiblich.
Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 05.12.2024, Az. 8 AZR 370/20
Rechtsprechung