Pflegemindestlöhne und Tarifvorgaben: Wechselwirkungen sind zu beachten
Am 31. Oktober 2024 hat die „Geschäftsstelle Tarifliche Entlohnung in der Langzeitpflege“ die aktuellen regional üblichen Entlohnungsniveaus in der Altenpflege veröffentlicht, die von Pflegeeinrichtungen, die diese Entlohnungsniveaus zahlen, spätestens ab Januar 2025 an die eigenen Beschäftigten weitergegeben werden müssen. Am 19. November 2024 tagte ferner die beim Bundesarbeitsministerium errichtete „Pflegemindestlohnkommission“, in der die Caritas-Dienstgeberseite vertreten ist. Dieses zeitliche Zusammentreffen soll zum Anlass genommen werden, einmal das System der Entlohnung in der Altenpflege und die neuesten Zahlen vorzustellen.
Pflegemindestlöhne und „tarifliche Entlohnung in der Pflege“
Der „Pflegemindestlohn“ wurde in Deutschland erstmals im Juli 2013 festgelegt, wobei der Begriff „Pflegemindestlohn“ missverständlich ist. Ende 2012 wurde das Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) um die §§ 10 ff. AEntG erweitert, wonach eine Pflegekommission eingerichtet werden musste, die „Mindestarbeitsbedingungen“ in der Pflege festlegen kann. Diese Mindestarbeitsbedingungen umfassen nicht nur einen Pflegemindestlohn, sondern zum Beispiel auch Mindestregelungen zu Urlaubszeiten und Urlaubsvergütungen. In dieser Pflegekommission sitzen vier Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmerseite (davon zwei Vertreter weltlicher Arbeitnehmer und zwei Vertreter kirchlicher Dienstnehmer) und vier Vertreter der Arbeitgeberseite (davon wiederum zwei kirchliche Dienstgebervertreter und zwei weltliche Arbeitgebervertreter). Im Jahr 2013 beschränkte sich die Kommission darauf, ab Juli 2013 einen Pflegemindestlohn für die ostdeutschen Bundesländer festzulegen (8,00 EUR pro Stunde) und einen für die westdeutschen Länder (9,00 EUR pro Stunde).
Im Januar 2022 trat das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) in Kraft, mit dem unter anderem die Zulassungsbedingungen für Altenpflegeeinrichtungen geändert wurden. Seither werden Zulassungen für Altenpflegeeinrichtungen nur noch erteilt, wenn der Träger der Einrichtungen
- entweder an einen Tarifvertrag oder an eine Kirchliche AVR gebunden ist oder
- solch einen Tarifvertrag oder solch eine kirchliche AVR anwendet oder
- den eigenen Beschäftigten in Pflege und Betreuung im Durchschnitt das sog. regional übliche Entlohnungsniveau (rüE) zahlt, das für jedes Bundesland einzeln aus den dort geltenden Tarifverträgen und kirchlichen AVR berechnet wird.
Ende 2022 wurden erstmals die regional üblichen Entlohnungsniveaus veröffentlicht. Diese mussten ab 2023 an die Beschäftigten in den Bereichen Pflege und Betreuung jeder betroffenen Einrichtung weitergegeben werden.
Seit dieser Zeit gibt es in Deutschland also ein System aus Pflegemindestlöhnen auf der einen Seite und tariflichen Entlohnungsvorgaben auf der anderen Seite. Da Tarifverträge und kirchliche AVR typischerweise höhere Entlohnungsvorgaben enthalten, hat sich die Bedeutung des Pflegemindestlohns seit 2023 gewandelt. Der Pflegemindestlohn hat seit 2023 vor allem folgende Funktionen:
- Der Pflegemindestlohn gilt uneingeschränkt in Pflegeeinrichtungen, die keine Zulassung nach § 72 SGB XI haben, also keine gesetzlich Versicherten pflegen und betreuen dürfen.
- Der Pflegemindestlohn ist eine Art Untergrenze für Tarifverträge in der Pflegebranche. Ein Tarifvertrag oder eine kirchliche AVR kann zwar den Pflegemindestlohn unterschreiten, jedoch müssen in diesem Fall die entsprechenden Tarifentlohnungen bis zur Höhe des Pflegemindestlohns aufgestockt werden.
- Der Pflegemindestlohn ist die Untergrenze für Einrichtungen, die das regional übliche Entlohnungsniveau (rüE) zahlen. Solche Einrichtungen haben das Recht, das jeweils vorgegebene rüE in verschiedener Höhe auf verschiedene Beschäftigte aufzuteilen bzw. in Stundenlöhne und Jahressonderzahlungen aufzuteilen etc. Das rüE darf pro bezahlter Stunde jedoch nicht unter dem Pflegemindestlohn liegen.
Entwicklungen des Pflegemindestlohns und der tariflichen Vorgaben in den letzten Jahren und in naher Zukunft
Mittlerweise gibt es in Deutschland keine Mindestlohndifferenzierung zwischen Ost- und Westdeutschland mehr. Dafür gibt es drei verschiedene Pflegemindestlöhne für die drei Qualifikationsgruppen „Pflegehilfskräfte ohne Ausbildung (sog. Hilfskräfte, HK)“, „Pflegehilfskräfte mit mindestens einjähriger Ausbildung (sog. Assistenzkräfte, AK)“ und „Pflegefachkräfte, FK“. Für diese drei Qualifikationsgruppen existieren auch jeweils eigene regional übliche Entlohnungsniveaus. Während die Pflegemindestlöhne also bundesweit einheitlich gelten, werden die regional üblichen Entlohnungsniveaus (rüE) für jedes Bundesland einzeln berechnet.
Im Folgenden werden die Entwicklungen anhand zweier Bundesländer beispielhaft dargestellt:
Die Zahlen in der Tabelle für Baden-Württemberg zeigen vor allem Folgendes:
- Die Pflegemindestlöhne sind zwischen April 2022 und Mai 2024 um Prozentwerte zwischen 24% und 27% angestiegen. Damit liegt die prozentuale Steigerung etwa doppelt so hoch, wie die Steigerung der Entlohnungen in den Entgeltgruppen P4 – P7 der Anlage 32 der AVR Caritas, die in der Zeit zwischen April 2022 und März 2024 um etwa 13% bis 14% angestiegen sind. Die regional üblichen Entlohnungsniveaus sind in Baden-Württemberg zwischen Februar 2023 und Januar 2025 um etwa 10% bis 14% angestiegen.
- Der Anstieg der regional üblichen Entlohnungsniveaus spiegelt die tarifliche Entwicklung in Baden-Württemberg erkennbar wider. Insbesondere zeigt sich der ungefähre Gleichlauf der Entwicklung mit den AVR Caritas, die 2022 und 2024 jeweils kurz vor der Erhebung und Berechnung der regional üblichen Entlohnungsniveaus eine Steigerung erfahren haben.
- Durch den überproportionalen Anstieg der Pflegemindestlöhne nähern sich diese immer mehr den unteren Stufen der Entgeltgruppen P4 – P7 der Anlage 32 AVR Caritas an. Auf den ersten Blick erscheint es so, als würden die Pflegemindestlöhne ab Juli 2025 über den Einstiegswerten der entgeltgruppen P4 – P7 liegen. Dieser Eindruck täuscht jedoch, da zu den dargestellten Tabellenentgelten noch mindestens zwei Pflegezulagen in Höhe von 0,21 Euro und 0,79 Euro hinzukommen, sodass in Baden-Württemberg die Pflegemindestlöhne auch 2025 nicht unterschritten werden, gleich ob es zu einer Erhöhung der Tabellenwerte der AVR kommt oder nicht.
Die Zahlen in der Tabelle für Mecklenburg-Vorpommern zeigen vor allem Folgendes:
- Auch in Mecklenburg-Vorpommern fällt die Steigerung der Pflegemindestlöhne zwischen April 2022 und Mai 2022 etwa doppelt so hoch aus, wie die Steigerung der regional üblichen Entlohnungsniveaus.
- Durch die Erhöhung der Pflegemindestlöhne von Dezember 2023 fallen diese in Mecklenburg-Vorpommern fast überall höher aus als die Einstiegsstufen der Entgeltgruppen P4 – P7 der Anlage 32, AVR Caritas. Ohne entsprechende Zulagen lägen hier also die Entlohnungen nach den AVR Caritas unter den Pflegemindestlöhnen.
- Für die Regionalkommission Ost sind jedoch bereits heute neue Entgelttabellen für Januar 2025 vorgesehen, aufgrund derer die Tabellenentgelte der Entgeltgruppen P4 – P7 wiederum höher ausfallen als die Pflegemindestlöhne und dies auch über die Erhöhung der Pflegemindestlöhne im Jahr 2025 hinaus.
- Die neuen Tabellenwerte der AVR Caritas zum 1. Januar 2025 bringen es auch mit sich, dass in den ostdeutschen Bundesländern die prozentuale Erhöhung der AVR Caritas über der prozentualen Erhöhung der regional üblichen Entlohnungsniveaus liegt. Hier werden die regional üblichen Entlohnungsniveaus durch die Erhebung und Berechnung im Jahr 2025 an die AVR Caritas aufschließen.
Insgesamt zeigen die beiden hier beispielhaft aufgeführten Bundesländer, dass die Pflegemindestlöhne zwischenzeitlich in Bereiche vorgestoßen sind, die nicht nur teilweise über den niedrigsten entsprechenden Tabellenentlohnungen verschiedener Tarifverträge bzw. kirchlicher AVR liegen. Spätestens hier stellt sich die Frage, ob diese Entwicklung noch dem Charakter eines Mindestlohns entspricht. Etwas direkter ausgedrückt, ist festzustellen, dass „Mindestlöhne“, die in Tarifverträge oder kirchliche AVR eingreifen, alles andere nur keine Mindestlöhne mehr sind. Die Pflegekommission sollte daher bei den Beratungen über die Fortschreibung der Pflegemindestlöhne in den Jahren 2027 und später genau auf die einschlägigen Tarifverträge und kirchlichen AVR blicken und sich von deren Entwicklung leiten lassen.
Die im Text angegebenen Stundenlöhne wurden mit folgender Formel ermittelt: regelmäßige monatliche Arbeitszeit = Wöchentliche Arbeitszeit * 13 / 3 – das ergibt bei 39 Wochenstunden genau 169 Stunden im Monat. Auf dieser Grundlage werden auch die regional üblichen Entlohnungsniveaus beim GKV-Spitzenverband berechnet.
Arbeitsrechtliche Analyse