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Die Bindungswirkung kirchlicher Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) im Dienstverhältnis

Arbeitsrechtlich verbindlich, aber keine Tarifverträge: Kirchliche AVR gelten im kirchlichen Dienst umfassend – auf Grundlage kircheninterner Regelungen. Welche juristischen Besonderheiten das mit sich bringt, zeigt diese Analyse.

Im weltlichen Arbeitsrecht gilt die Annahme, dass einzelne Beschäftigte ihren Arbeitgebern strukturell unterlegen sind – selbst in Zeiten des Fachkräftemangels. Um dem zu begegnen, setzt das Arbeitsrecht auf gesetzlich geregelte Mindeststandards und kollektive Aushandlung durch Gewerkschaften. Doch gute Arbeitsbedingungen brauchen nicht zwingend Streiks und Tarifgesetze: Im kirchlichen Bereich zeigt sich ein alternativer Weg kollektiver Regelsetzung – ohne Arbeitskampf.

Rechtsdurchsetzung im weltlichen Arbeitsrecht

Im Jahr 2024 waren laut Statistischem Bundesamt 49 Prozent der Beschäftigten in Deutschland in einem tarifgebundenen Betrieb tätig; im Bereich „Gesundheits- und Sozialwesen“ lag die Quote bei 53 Prozent. Diese Zahlen legen nahe, dass Tarifverträge im weltlichen Arbeitsrecht selbstverständlich seien. Tatsächlich ist der Abschluss von Tarifverträgen jedoch an Voraussetzungen gebunden und wird in der heutigen Wirtschaft zunehmend herausfordernd. Nach § 2 TVG können Gewerkschaften, Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände Tarifverträge abschließen. Damit eine Beschäftigtenvereinigung als tariffähige Gewerkschaft gilt, muss sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen: Sie muss tarifwillig, frei gebildet, unabhängig, gegnerfrei und überbetrieblich organisiert sein. Entscheidend ist zudem ihre soziale Mächtigkeit – also die Fähigkeit, mit ausreichender Mitgliederzahl wirksam Druck im Arbeitskampf auszuüben.

Rechtsdurchsetzung im kirchlichen Arbeitsrecht

Das kirchliche Dienstvertragsrecht in katholischer Kirche und Caritas kommt gänzlich ohne solche gesetzlichen und tatsächlichen Voraussetzungen zur Rechtsdurchsetzung aus. Kirche und Caritas orientieren sich am Leitbild der Dienstgemeinschaft und an den Grundsätzen einer partnerschaftlichen Lösung von Interessengegensätzen. Das entsprechende Rechtssetzungsverfahren wird als sog. Dritter Weg bezeichnet – in Abgrenzung zum sog. Ersten Weg (Regelung von Arbeitsbedingungen durch Individualvertrag) und dem sog. Zweiten Weg (Regelungen von Arbeitsbedingungen durch Tarifvertrag).

Grundlegend hierfür sind die Regelungen der Grundordnung des kirchlichen Dienstes (GrO) vom 22. September 1993 in der Fassung des Beschlusses der Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands vom 22. November 2022. Nach Artikel 9 Abs. 1 GrO werden „die zivilrechtlichen Arbeitsbedingungen im kirchlichen Dienst (…) durch paritätisch von Vertreterinnen und Vertretern der Mitarbeitenden und der Dienstgeber besetzte Arbeitsrechtliche Kommissionen ausgehandelt und beschlossen“. Die Rede ist von einem eigenständigen Kommissionsmodell, bei dem Interessengegensätze zwischen Dienstgebern und Mitarbeitenden bei der Festlegung kirchlicher Arbeitsvertragsbedingungen durch Verhandlung und wechselseitiges Nachgeben, nicht aber durch Arbeitskämpfe gelöst werden sollen, Artikel 9 Abs. 3 GrO. Die Mitgliedschaft der einzelnen Unternehmen und ihrer Beschäftigten in Kirche und Caritas in den entsprechenden Kommissionsstrukturen ist Pflicht. § 1 Abs. 2 der Ordnung der Arbeitsrechtlichen Kommission des Deutschen Caritasverband e.V. (AK-O) legt beispielsweise fest, dass die AK-O für alle nach der GrO verpflichteten (kirchlichen) Rechtsträger gilt, die sich entschieden haben, die AVR Caritas anzuwenden. Anders gesagt, wenn ein Rechtsträger sich entschließt, die AVR Caritas anzuwenden, gilt das Kommissionsmodell automatisch und sowohl Dienstgeber als auch Mitarbeiter sind aufgerufen, sich in der Arbeitsrechtlichen Kommission des DCV zu engagieren.

Hier zeigt sich der erste wesentliche Unterschied zwischen der Aushandlung kollektiver arbeits- oder dienstvertraglicher Regelungen im weltlichen Recht und im kirchlichen Arbeitsrecht. Während im weltlichen Recht Tarifverträge bei ihrer erstmaligen Aushandlung notfalls mit Arbeitskampfmaßnahmen erkämpft werden müssen, fällt die Aushandlung und Anwendung kirchlicher oder caritativer AVR untrennbar mit der Eigenschaft als kirchlicher und caritativer Rechtsträger zusammen. Anders gesagt sind kirchliche bzw. caritative Rechtsträger und ihre Beschäftigten von vornherein an die entsprechenden AVR gebunden. Nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch ergibt sich hierauseine Bindung der kirchlich-caritativen Rechtsträger von 100 Prozent. Eines besonderen Kampfmittels zu Aushandlung oder Anwendung bedarf es – anders als im weltlichen Recht – nicht.

Bindung an weltliche Tarifverträge

Wenn Arbeitsbedingungen durch Tarifvertrag geregelt werden, dann gelten die Bestimmungen des Tarifvertragsgesetzes (TVG) hinsichtlich des Inhalts, der Form und Bindungswirkung. Die Bindungswirkung erstreckt sich grundsätzlich auf alle Mitglieder von Tarifvertragsparteien. Diese sind gemäß § 3 Abs. 1 TVG tarifgebunden. Dies gilt sowohl für Unternehmen, die Mitglieder eines tarifschließenden Arbeitgeberverbands sind, als auch für Arbeitnehmer, die Mitglieder einer tarifschließenden Gewerkschaft sind. Anders gesagt: an einen Tarifvertrag ist gebunden, wer Mitglied des tarifschließenden Arbeitgeberverbands oder Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft ist. Sollte ein einzelnes Unternehmen Tarifpartei sein, so ist dieses Unternehmen aufgrund seiner Parteistellung tarifgebunden.

Zwischen tarifgebundenem Arbeitgeber und tarifgebundenem Arbeitnehmer wirken die Normen eines Tarifvertrags unmittelbar und zwingend, § 4 Abs. 1 TVG. Sollte ein Tarifvertrag also Entlohnungsvorgaben enthalten, so kann ein tarifgebundener Beschäftigter die entsprechende Entlohnung von seinem tarifgebundenen Arbeitgeber verlangen, ohne dass es einer gesonderten Vereinbarung bedarf.

Die Tarifgebundenheit bleibt gemäß § 3 Abs. 3 TVG bestehen, bis das Tarifvertragswerk endet, auch wenn eine der tarifgebundenen Parteien z. B. zuvor aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten ist (sog. Nachbindung). Ferner enthält § 4 Abs. 5 TVG eine Regelung, wonach ein Tarifvertrag auch nach seinem Ablauf weiterhin gilt, bis die Normen des Tarifvertrags durch andere Abmachungen ersetzt werden (sog. Nachwirkung).

Bindung an kirchliche AVR

Vergleichbare gesetzliche Regelungen für die Bindung an kirchliche AVR existieren im kirchlichen Arbeitsrecht nicht. Hierzu muss man wissen, dass kirchliche AVR zwar rein äußerlich gar nicht oder kaum von Tarifverträgen zu unterscheiden sind, aber im Ergebnis keine Tarifverträge mit besonderem verfassungsrechtlichem Schutz aus Artikel 9 Abs. 3 GG sind, sondern nach ständiger Rechtsprechung des BAG eher mit allgemeinen Geschäftsbedingungen vergleichbar sind.

Was kirchliche AVR angeht, so existiert eine ausdifferenzierte kirchenrechtliche Bindung: Gemäß Artikel 1 GrO sind kirchliche Dienstgeber zur Anwendung der GrO verpflichtet, also an die GrO gebunden. Eine solche rechtliche Verpflichtung ist möglich, weil hier ein (inner-) kirchliches Gesetz kirchliche Rechtsträger, aber keine (außenstehenden) Dritten, verpflichtet. Das Verhältnis kirchlicher Rechtsträger zum Kirchenrecht wird daher als innerkirchlicher Rechtskreis bezeichnet. Wie oben skizziert, sind im innerkirchlichen Rechtskreis kirchliche Rechtsträger als Dienstgeber an das kirchliche Arbeitsrecht gebunden (sog. binnennormative Wirkung).

Hierbei muss allerdings differenziert werden:

  • Die in Art. 1 Abs. 5 GrO aufgezählten Dienstgeber werden kirchenrechtlich unmittelbar verpflichtet, denn die dort aufgezählten Dienstgeber (Diözesen, Kirchengemeinden und -stiftungen, Verbände von Kirchengemeinden, Diözesancaritasverbände sowie bestimmte Orden) unterliegen unmittelbar der kirchlichen, d.h. bischöflichen Gesetzgebungsgewalt.
  • Alle anderen kirchlichen Rechtsträger müssen gemäß Artikel 1 Abs. 6 GrO die Grundordnung als rechtsverbindlich übernehmen. Nach einer solchen Übernahme verpflichtet dann die Grundordnung auch diese Rechtsträger.

Ein Rechtsträger, der unter § 1 Abs. 6 GrO fällt, und sich gegen eine Anwendung der GrO entscheidet (sofern ihm das überhaupt möglich ist), ist hiernach arbeitsrechtlich als weltlicher Rechtsträger zu behandeln und kann sich spiegelbildlich nicht auf die Regelungen des Dritten Wegs nach katholischer Ausprägung berufen.

Wenn aber ein Rechtsträger unter die Regeln des katholischen kirchlichen Arbeitsrechts fällt, so gilt für ihn zugleich der Anwendungsbefehl des kirchlichen Arbeitsrechts. Dieser Grundsatz ist in der GrO auch wörtlich festgehalten. In Artikel 9 Abs. 4 GrO heißt es ausdrücklich, dass die von den Arbeitsrechtlichen Kommissionen beschlossenen und von den Diözesanbischöfen in Kraft gesetzten Beschlüsse für die kirchlichen Arbeitgeber unmittelbar und zwingend gelten. Und im Zusammenhang mit Artikel 9 Abs. 4 GrO sind auch § 1 AK-O und § 2 AT AVR Caritas zu lesen, wonach die Regeln der Arbeitsrechtlichen Kommission, vor allem aber die AVR Caritas für Unternehmen der Caritas unmittelbar und zwingend gelten. Danach sind Rechtsträger der Caritas zwingend verpflichtet, die AVR für alle ihre Beschäftigten anzuwenden.

Dieser Anwendungsbefehl ist aber nicht mit der beidseitig normativen Wirkung eines Tarifvertrages gemäß § 4 Abs. 1 TVG zu verwechseln. Im Verhältnis zwischen kirchlich-caritativem Unternehmen und dessen Beschäftigten kann kirchliches Recht nicht normativ wirken, denn dieses Rechtsverhältnis ist ein außerkirchliches, rein weltliches Rechtsverhältnis, sodass es als säkularer Rechtskreis bezeichnet wird. Im säkularen Rechtskreis muss den kirchlichen AVR also auf andere Weise zur Wirkung bzw. Bindung verholfen werden.

Unter Hinweis auf die sich aus dem kircheneigenen Verfahren paritätischer Normsetzung ergebende Schutzwirkung wurde im Schrifttum lange Zeit die Meinung vertreten, dass den Arbeitsvertragsrichtlinien bzw. Dienstvertragsordnungen analog die gleiche normative Wirkung zukomme wie Tarifverträgen. Für die Praxis ist diese Fragestellung geklärt. Das BAG hat in seinen Entscheidungen aufgrund des skizzierten Wechselspiels von kirchlichem und säkularem Rechtsverhältnis klargestellt, dass die kirchlichen Arbeitsvertragsregelungen keine Tarifverträge sind. Die Anwendung des § 4 Abs. 1 TVG kommt nicht in Betracht, auch nicht analog. Kirchliche AVR finden nach ständiger Rechtsprechung des BAG allein kraft einzelvertraglicher Inbezugnahme Anwendung im Arbeitsverhältnis. Das BAG trägt bei der besonderen Rechtskontrolle der insoweit als AGB zu qualifizierenden Regelungen der kirchlichen AVR dem Kirchenprivileg Rechnung., Das Verfahren des Dritten Weges gewährleistet, dass eine einseitige Durchsetzung der Interessen des Dienstgebers vermieden wird. Dies ist gemäß § 307 Abs. 1 S. 2 BGB ist als „im Arbeitsrecht geltende Besonderheit“ zu beachten. Aufgrund der daraus folgenden Richtigkeitsgewähr besteht nur eine eingeschränkte Rechtskontrolle auf Verstöße gegen die Verfassung, gegen anderes höherrangiges Recht oder die guten Sitten.

Kirchliche oder caritative Unternehmen erfüllen ihre Anwendungsverpflichtung hinsichtlich der eigenen AVR folglich dadurch, dass sie in allen ihren Dienstverträgen die Geltung der AVR dienstvertraglich vereinbaren. Im innerkirchlichen Rechtskreis zwischen Kirche und Rechtsträgern der Caritas gilt also der Anwendungszwang der AVR; im säkulären Rechtskreis zwischen Rechtsträgern der Caritas und Beschäftigten gelten die AVR aufgrund dienstvertraglicher Vereinbarung.

Fazit

Kirchliche AVR werden nicht wie Tarifverträge kollektiv abgeschlossen und gelten nicht wie diese kraft Gesetzes, das für Tarifverträge besondere Vorschriften enthält. Kirchliche oder caritative AVR werden vielmehr kollektiv abgeschlossen und kollektiv durch alle Caritas-Unternehmen angewendet. Die Umsetzung und Bindung für die einzelnen Dienstverhältnisse vollzieht sich aber auf einzelvertragliche Ebene durch Einbeziehung der AVR in die einzelnen Dienstverträge. Daher mag es aus Perspektive des BAG nachvollziehbar sein, kirchliche AVR als einzelvertragliche wirkende „allgemeine Arbeitsvertragsbedingungen“ zu betrachten. Diese Rechtsprechung trägt aus kirchlicher Perspektive dem besonderen Charakter der AVR jedoch nicht immer Rechnung. Allerdings enthält das kirchliche Recht hier noch eine kaum bekannte Regelung, die dem besonderen Charakter der AVR Rechnung trägt. Zwar kann das kirchliche Recht für einzelne Arbeitnehmer keine normative Wirkung entfalten, das kirchliche Recht verschafft jedoch dem einzelnen Arbeitnehmenden einen individuellen Anspruch: Nach Artikel 9 Abs. 4 GrO haben die Mitarbeiter kirchlich caritativer Unternehmen Anspruch auf die Anwendung der jeweils geltenden AVR.

Im Ergebnis entfalten kirchliche AVR durch eine normative Bindung auf der einen Seite und einen Anwendungsanspruch auf der anderen Seite die gleiche Bindungswirkung wie Tarifverträge, nur eben auf einzelvertraglicher Ebene.

Arbeitsrechtliche Analyse

Autor/-in: Christian Schulz

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