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Fachkräfte­situation in Deutschland: Wo sind wir in fünf Jahren?

Neue Forschungsergebnisse einer IW-Studie ergeben, dass schon bald mit einer Verschärfung der Fachkräftesituation in vielen Berufsfeldern zu rechnen ist. In unserer Analyse betrachten wir aktuelle Schwierigkeiten und mögliche Lösungsansätze.

Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) untersucht in einer neuen Studie „DIE IW-ARBEITSMARKTFORTSCHREIBUNG. WO STEHEN BESCHÄFTIGUNG UND FACHKRÄFTEMANGEL IN DEN 1.300 BERUFSGATTUNGEN IN FÜNF JAHREN?“ die Beschäftigungsentwicklung in Deutschland.

Es liegt ein empirisches Modell zugrunde, das die Trends der letzten sieben Jahre (2015 bis 2021) schätzt und für die Zukunft bis zum Jahr 2026 „fortschreibt“. Um die Fachkräftesituation für Arbeitgeber zu analysieren, wird ausschließlich der Arbeitsmarkt für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte betrachtet. Die Fortschreibungen sind eher als Erwartungswert für die mittelfristige Entwicklung und nicht als Prognose zu verstehen. Das Modell berücksichtigt den demographischen Wandel im Detail. Als wesentlicher Grund für den Fachkräftemangel wird die Babyboomergeneration aufgeführt, die schrittweise in den Ruhestand geht und eine Lücke auf dem Arbeitsmarkt hinterlässt.

Die IW-Arbeitsmarktfortschreibung liefert im Ergebnis absolute Zahlen für Beschäftigte und den Fachkräftemangel. Mit Datenstand 2021 ergibt sich ein durchschnittliches Beschäftigtenwachstum von circa 540.000 Personen jährlich von 2022 bis 2026. An der Spitze der 15 Berufsgattungen mit der höchsten absoluten Veränderung der Beschäftigten von 2021 bis 2026 stehen die Erzieher und Erzieherinnen mit einem Zuwachs von 152.332 (19,7 Prozent). Im mittleren Bereich lassen sich Fachkräfte in der Gesundheits- und Krankenpflege mit einem Zuwachs von 47.166 (7,3 Prozent) finden. In der aggregierten Betrachtung der 1.300 Berufsgattungen auf 37 Berufshauptgruppen lassen sich übergeordnete Entwicklungen erkennen. Dabei ist der größte Beschäftigungszuwachs in folgenden Bereichen zu erwarten: Erziehung und Soziales (373.610), Unternehmensorganisation (296.190), Verkehr und Logistik (285.860), Gesundheit (278.854) und IT-Berufe (233.862).

Im Jahr 2021 meldeten unter den 1.300 Berufsgruppen 400 eine Personalnot; laut Studie werden bis 2026 insgesamt 560 Berufsgruppen betroffen sein. Schaut man die Top 30 Berufe mit der größten Fachkräftelücke an, so ergibt die Fortschreibung, dass im Jahr 2026 laut Datenlage 26.192 Erzieher, 20.268 Sozialpädagoginnen und 19.167 Krankenpflegekräfte fehlen werden. Für die Altenpflege ergab sich eine Lücke von 19.840, jedoch ist die Fortschreibung statistisch nicht sicher. Es gibt also Berufe, in denen zwar immer mehr Menschen arbeiten, in denen aber weiterhin ein hoher Bedarf an Arbeitskräften bestehen bleiben wird. Dazu gehören die Fachkräfte in der Kinderbetreuung, in der Kranken- und Altenpflege und in der Sozialarbeit. Der größte Rückgang wird bezogen auf die Berufshauptgruppen hingegen in den Metallberufen erwartet (-120.318). Betrachtet man einzelne Berufe, so wird der größte Beschäftigungsabbau bei mittelqualifizierten Bankkaufleuten stattfinden (-73.999).

Studienautor Alexander Burstedde erklärt, dass aktuell im Schnitt die Beschäftigten mit 64 Jahren in den Ruhestand gehen. Deshalb sei es der wichtigste Hebel gegen den Fachkräftemangel, wenn älteren Arbeitnehmern gute und passende Angebote unterbreitet werden könnten, um diese in der Beschäftigung zu halten. Dies sei – grob gesagt – dreimal so wichtig wie die Zuwanderung, die – wenn sie wie im bisherigen Maße fortläuft – den demografischen Wandel nicht aufhalten könne. In den nächsten fünf Jahren werde Migration nur 70 Prozent des fehlenden Personals ausgleichen können. Laut Burstedde scheine die Arbeitslosigkeit selbst in Krisenzeiten nicht anzusteigen; er sehe daher in der Verringerung der Arbeitslosigkeit keinen Hebel, dem Fachkräftemangel zu begegnen.

Prof. Dr. Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), stimmt zu, dass ältere Arbeitnehmer im Kampf gegen den Fachkräftemangel eine wichtige Rolle spielen könnten. Man müsse ihnen aber die Flexibilität am Arbeitsplatz geben, die sie brauchen. Er weist auch auf die hohe Belastung der Fachkräfte in Bereichen der Pflege und der Medizin hin und fordert eine neue Organisation der Arbeit. Es bedürfe auch einer besseren Bezahlung. Die Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Berufsverbandes für Pflege fordert neue Strukturen im Pflegebereich, die das Arbeiten bis zum Ruhestand überhaupt ermöglichen, denn schon jetzt sei in den Pflegeberufen zu beobachten, dass Ausfälle durch Krankheit oder ein früheres Ausscheiden aus dem Beruf deutlich höher sind als in anderen Berufen. (Vgl. FAZ „BABYBOOMER HEIZEN FACHKRÄFTEMANGEL AN“, 27.01.2023)

Um dem Fachkräftemangel heute und in Zukunft zu begegnen, werden sozial- und gesellschaftlich verträgliche Lösungen notwendig. Dabei werden nicht nur innovative und kreative Arbeitsansätze benötigt, sondern ein Policy-Mix – das heißt Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen, die ineinandergreifen. Im Folgenden werden zwei aktuelle Ideenansätze für Maßnahmen vorgestellt.

Pflege-Paket Bayern

Für Bayern hat Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) die Etablierung von Springerpools in der Pflege im Visier. Dafür sollen 7,5 Millionen Euro bis Ende 2024 in 30 Modellprojekte – 20 in stationären und 10 im ambulanten Bereich – fließen. Nach dieser Erprobungszeit soll das Springerkonzept in das reguläre Pflegesystem – in die Regelversorgung – integriert werden. Ziel sei es, Arbeitsbedingungen zu verbessen und gleichzeitig Leiharbeit zu vermeiden. Durch ein Springerkonzept würden verlässliche Dienstpläne möglich und ausreichend Fachkräfte zur Verfügung gestellt, die Personalausfälle auffangen. Dies könne zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen. Dabei könnten Springerpools innerhalb einer Einrichtung, aber auch einrichtungsübergreifend etabliert werden. Auch die psychische Unterstützung von Pflegekräften solle vorangetrieben werden. Bayern plane in jedem Regierungsbezirk Anlaufstellen für psychosoziale Beratungen. Damit könne man auf den hohen Krankenstand in der Berufsgruppe eingehen. Beschäftigte der Altenpflege waren 2022 im Schnitt rund 33 Tage krankgemeldet, der Durchschnitt aller Beschäftigten lag bei rund 18 Tagen. Außerdem soll das Anerkennungsverfahren bei ausländischen Pflegekräften vereinfacht und beschleunigt werden. (Vgl. SZ „WO KOMMEN IN ZUKUNFT DIE MENSCHEN HER, DIE AM BETT STEHEN?“, 31.01.2023)

Interview mit Andrea Nahles

In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (F.A.S.) zum Thema Fachkräftemangel vom 5. Februar 2023 spricht Andrea Nahles, Leiterin der Bundesagentur für Arbeit (BA), davon, dass Demographie, Digitalisierung und Automatisierung miteinander verheiratet werden müssten. Routineaufgaben beispielsweise könnten mittels KI übernommen werden. Für Menschen, die im Ruhestand einer beruflichen Tätigkeit mit „neuen Bedingungen“ nachgehen möchten, müssten flexible Arbeitszeitmodelle unterbreitet werden. Nahles rechnet mit einem Zuwanderungsbedarf von 400.000 Arbeitskräften pro Jahr, um das Erwerbspersonenpotential stabil zu halten. Das geplante Fachkräfteeinwanderungsgesetz gehe in die richtige Richtung, allerdings müsse auch darauf geachtet werden, dass eine nötige Anzahl an Arbeitskräften aus Drittstaaten erreicht werden kann. (Vgl. FAZ „WIR SIND DIE AGENTUR FÜR ARBEIT, NICHT FÜR FREIZEIT“, 05.02.2023)

Grenzen der Bundesagentur-Statistiken

Versuche, den Fachkräftemangel durch eine verkürzte Interpretation der Statistik der BA zu relativieren, wie zuletzt durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), sind nicht hilfreich. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag schließt das BMAS aus der Tatsache, dass im Dezember 2022 in 118 von 144 Berufsgruppen mehr Stellen als arbeitslose Menschen bei der BA gemeldet waren, dass es in vielen Bereichen ausreichend Fachkräfte geben müsse. Diese Schlussfolgerung zweifeln Experten des IW an. Diese vereinfachte Betrachtung widerspreche zum einen den Erfahrungen der Unternehmen, die immer weniger passende Bewerbungen erhalten und lässt darüber hinaus weitere wichtige Punkte in Bezug auf die verwendeten Zahlen außer Acht: Betriebe melden nicht alle freien Stellen der BA, sondern nutzen zunehmend Onlinestellenportale. Das gilt insbesondere für Mangelberufe. Laut der Stellenerhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung von 2022 tauchen nur rund vier von zehn offenen Stellen in der BA-Statistik auf, so dass es tatsächlich mehr als doppelt so viele offene Stellen gibt. Hinzu kommt, dass die arbeitslos gemeldeten Personen und die offenen Stellen einer Berufsgruppe etwa aufgrund der geforderten fachlichen Ausrichtung nicht zusammenpassen.

Ausblick

Vor dem Hintergrund der Forschungsergebnisse ist schon kurzfristig mit einer Verschärfung der Fachkräftesituation in vielen Bereichen zu rechnen. Dies muss im Blick behalten werden. Schon aktuell gibt es, wie eingangs beschrieben, in etwa 400 der 1.300 in der IW-Studie betrachteten Berufe mehr offene Stellen als Arbeitsuchende.

Ökonomische Analyse

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