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VG Lüneburg: Bahnfahrzeit kann Arbeitszeit sein

Ist die An- und Abreise mit der Bahn maßgeblicher Inhalt der Tätigkeit des Arbeitnehmers, gelten Bahnreisezeiten zur Arbeitszeit im Sinne des ArbZG.

Sachverhalt

Das klagende Unternehmen überführt neue und gebrauchte Nutzfahrzeuge in ganz Europa. Dazu setzt sie auch eigene Mitarbeiter ein. Diese fahren von der Wohnung mit Taxi oder Bahn zum Abholort, von dort mit dem Fahrzeug selbst zum Zielort und dann wieder mit Bahn oder Taxi zur Wohnung. Sie verfügen für die Bahnfahrt über eine BahnCard 100 und müssen die Überführungspapiere, ein Firmenhandy, Schutzbezüge zur Nutzung im Überführungsfahrzeug sowie eine mobile Mautbox mit sich führen. Vorgaben des Unternehmens zur Zeitnutzung während der Bahnfahrten bestehen nicht. Im Arbeitsvertrag ist festgehalten, dass Ruhe-, Warte-, Bereitschafts- und verfügungsunfreie Zeiten sowie die Zeiten der An- und Abreisezeiten wie auch Zeiten als Mitfahrer nicht als Arbeitszeit gelten.

Das beklagte Gewerbeaufsichtsamt hat – verkürzt gesagt – die Klägerin aufgefordert, die Anfangs- und Endzeiten auch der An- und Abreisen zur Sicherstellung der Einhaltung der „in § 3 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) genannten Höchstarbeitszeiten und die in § 5 ArbZG genannten Mindestruhezeiten“ aufzuzeichnen und bei der Arbeitszeit zu berücksichtigen. Dabei bezieht die Behörde für die Neufahrzeugüberführung die Bahnfahrtzeiten ausdrücklich als Arbeitszeit ein. Die Klägerin hat dagegen nach erfolglosen Widerspruchsverfahren Klage eingereicht.

Entscheidung

Das Verwaltungsgericht (VG) Lüneburg hat die Klage zurückgewiesen. Es sieht die Voraussetzungen einer behördlichen Anordnung nach § 17 Abs. 2 ArbZG als gegeben an – auch in Bezug auf die Bahnfahrtzeiten. Anders als nach der sogenannten „Beanspruchungstheorie“ des Bundesarbeitsberichts (vgl. BAG, Urteil vom 11. Juli 2006 - 9 AZR 519/05, NZA 2007, Seite 155ff.) ist im Sinne der Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG - ArbZ-RL) lediglich zwischen „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ zu unterscheiden. Die Tätigkeit des Klägers ist mit der Tätigkeit von Arbeitnehmern vergleichbar, die vom Wohnort direkt zum Kunden fahren und dort Leistungen erbringen. Bei diesen ist die Wegezeit Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie (EuGH, Urteil vom 10. September 2015 – C-266/14, hier abrufbar). Sie haben keine feste Arbeitsstätte, die Weglänge und -dauer richtet sich nach den Anordnungen des Arbeitgebers. Alle Kriterien liegen in der Sphäre des Arbeitgebers. Zudem steht er wegen der Mitnahme von Gegenständen für die Überführung, die Erreichbarkeit während der Bahnfahrt sowie der Notwendigkeit der Terminabstimmung während der Fahrt dem Arbeitgeber zur Verfügung und übt eine Tätigkeit aus. Eine besondere Belastung oder Erschwernis ist nicht Voraussetzung des Art. 2 Abs. 1 ArbZ-RL. Entscheidend sind die Bestimmungen der im Einzelfall geschuldeten Tätigkeit des Arbeitnehmers sowie die Beschränkungen, die der Arbeitnehmer dadurch erfährt, dass er nicht frei über seine Zeit verfügen kann. Eine Anwendung des § 21a ArbZG (Beschäftigung im Straßentransport) scheidet für die Bahnfahrten aus.

Bewertung

Mit der Entscheidung stellt sich das VG Lüneburg gegen die (noch) herrschende Meinung, die für die arbeitszeitrechtliche Betrachtung der Belastungstheorie des BAG folgt. Allerdings mehrten sich auch bisher schon kritische Stimmen. Ausgehend von der Rechtsprechung des EuGH zur „Bereitschaftszeit“ bzw. „Rufbereitschaft“ (vgl. EuGH, Urteil vom 10. November 2021 – C‑214/20, hier abrufbar; Urteil vom 21. Februar 2018 – C-518/15, hier abrufbar) soll danach auch für Reisezeit die Bindung des Arbeitnehmers und die Einbeziehung in den Leistungsinhalt entscheidend sein. Fehlt für den Arbeitnehmer eine Eigennützigkeit ist danach unabhängig von der Frage der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel eine Einordnung in „Arbeitszeit“ vornehmen.

Vergütungsrechtlich hatte das BAG bereits ähnlich entschieden, als es bei einer Entsendung ins Ausland die erforderliche (Flug-)Reisezeit als wie Arbeitszeit zu vergüten bewertete (BAG, Urteil vom 17. Oktober 2018 – 5 AZR 553/17, hier abrufbar). Die Frage wird sein, ob ausgehend vom VG Lüneburg diese Sichtweise sich generell für die Beurteilung von Reisezeit als Arbeitszeit durchsetzt.

Für die Praxis ist darauf hinzuweisen, dass die entschiedene Fallgestaltung dadurch geprägt ist, dass ein fester Arbeitsplatz in einer Betriebsstätte nicht gegeben war. Wie bei Kundendienstmitarbeitern gehörte deshalb die Reise ab Wohnung ohne eigene Einflussmöglichkeit auf Weg und Zeit zum vereinbarten Leistungsinhalt. Dies ist bei gelegentlichen oder häufigeren Dienstreisen selbst beim Startpunkt der Wohnung nicht der Fall. Zudem wird weiterhin zwischen der nur bedingt abweichend tariflich regelbaren arbeitsschutzrechtlichen, der regelbaren vertraglichen und der regelbaren vergütungsrechtlichen Betrachtung zu unterscheiden sein. Zumindest für letztere beide Aspekte gilt die Regelung des § 6 Anlage 5 AVR.

Verwaltungsgericht (VG) Lüneburg, Urteil vom 02.05.2023 (3 A 146/22)

Rechtsprechung

Autor/-in: Helge Martin Krollmann

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