Fach- und Leitungskräfte nicht vergessen – Lohnentwicklung in Deutschland
Inhalt
Niedriglohnsektor in Deutschland schrumpft
Entwicklung reale Bruttostundenlöhne
Niedriglohnsektor
Lohnungleichheit
Einordnung Caritas
Fazit
Der Niedriglohnsektor in Deutschland schrumpft – und dies schon seit 2017. Zu diesem Ergebnis kommt Dr. Markus M. Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Wochenbericht 5/2024. Nachdem der Niedriglohnsektor bewusst als wirtschaftspolitisches Instrument zur Überwindung hoher Arbeitslosenzahlen etabliert und ausgeweitet wurde, kommt es seit 2017 zu einer Trendwende: Durch die Einführung des Mindestlohnes 2015 und die veränderte Lohnpolitik der Gewerkschaften haben gerade untere Einkommensgruppen überdurchschnittliche Lohnzuwächse zu verzeichnen. Das Ergebnis ist eine problematische Stauchung der Lohnverteilung. Wie Arbeitgeber der Caritas auf diese Entwicklung reagieren, zeigt eine aktuelle Abfrage der Dienstgeberseite der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas. Fach- und Leitungskräften werden bundesweit in großem Umfang über- und außertarifliche Zulagen gewährt. Dabei werden die Honorierung von Leitungsverantwortung und die Gewinnung von Fachkräften als häufigste Gründe angeführt. Der Abstand zu den unteren Lohngruppen wird durch die Zulagenzahlung in notwendigem Maße vergrößert.
Niedriglohnsektor in Deutschland schrumpft
Vor dem Hintergrund verschiedener wirtschaftlicher Krisen in den letzten zwanzig Jahren geht Dr. Markus M. Grabka in seiner Untersuchung unter anderem der Frage nach, wie sich diese Entwicklungen auf die Bruttolöhne und Gehälter der Beschäftigten in Deutschland ausgewirkt haben. Er greift dabei auf Einkommensinformationen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zurück, das in Zusammenarbeit mit dem Institut für angewandte Sozialwissenschaft infas erhoben wird.
Entwicklung reale Bruttostundenlöhne
In der Entwicklung der durchschnittlichen inflationsbereinigten Bruttostundenlöhne sind zwei Phasen zu erkennen. In der ersten Phase im Zeitraum 1995 bis 2012 sind diese um 3 Prozent gesunken. Auf die hohen Arbeitslosenzahlen reagierten die Tarifpartner hier mit Lohnzurückhaltung. In der zweiten Phase von 2013 bis 2021 sind die Löhne hingegen um 20 Prozent gestiegen. Über beide Phasen hinweg sind die realen Bruttolöhne um 16,5 Prozent auf zuletzt durchschnittlich rund 20,30 Euro gestiegen. Betrachtet man nur Vollzeitbeschäftigte so ist insgesamt ein überdurchschnittlicher Anstieg um 25 Prozent zu beobachten.
Für eine genauere Untersuchung wurden die realen Bruttostundenlöhne nach der Höhe sortiert und in zehn gleich große Gruppen (Dezile) eingeteilt. Das unterste Dezil stellt den Lohn der einkommensschwächsten 10 Prozent und das oberste Dezil den Lohn der einkommensstärksten 10 Prozent der Beschäftigten dar. Für die erste Phase von 1995 bis 2012 ist eine fortschreitende Lohnspreizung zu beobachten, die vor allen Dingen auf die untere Hälfte der Verteilung zurückgeht. Im ersten Lohndezil kam es bis 2012 zu deutlichen realen Rückgängen von bis zu minus 27 Prozent. In dieser Phase wurde der Niedriglohnsektor durch beispielsweise Minijobs und sehr niedrig bezahlte Dienstleistungsjobs ausgeweitet; auch fällt die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, wie kommunalen Krankenhäuser, in diese Phase. Dies ging vielfach mit Lohneinbußen bei Neuverträgen der Beschäftigten einher. In der zweiten Phase stiegen die Reallöhne über alle Dezile hinweg. Aber insbesondere im ersten Lohndezil waren seit 2013 deutliche Reallohnsteigerungen zu verzeichnen. 2015 wurde der gesetzliche Mindestlohn eingeführt und seitdem stufenweise erhöht. Zuletzt im Januar 2024 um 3,4 Prozent auf 12,41 Euro. Auch die veränderte Lohnpolitik der Gewerkschaften führte zu einem überproportionalen Anstieg der unteren Lohngruppen: Prozentuale Lohnsteigerungen wurden durch Mindestzahlungen für untere Lohngruppen ergänzt, die relativ gesehen deutlich höher ausfallen als für höhere Lohngruppen. In der zweiten Phase ab 2013 ist daher eine Stauchung in der Lohnverteilung festzustellen.
Niedriglohnsektor
Der Ausbau des Niedriglohnsektors war arbeitsmarktpolitisch bewusst herbeigeführt worden. Arbeitslose sollten so schneller in den Arbeitsmarkt integriert werden, um mit der Zeit eine Chance auf eine besser entlohnte Tätigkeit erhalten. Die Etablierung des Niedriglohnsektors hatte zur Folge, dass im Zeitraum 1996 bis 2007 der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor von 16 Prozent auf 23,5 Prozent angestiegen war. Durch die Einführung und Anhebung des Mindestlohns und der veränderten Lohnpolitik ist der Niedriglohnsektor seit 2017 immer weiter geschrumpft und liegt aktuell (2022) bei 15,2 Prozent – und damit unter dem Niveau von 1995.
Lohnungleichheit
Sowohl die Entwicklung der Lohndezile als auch des Niedriglohnsektors deuten darauf hin, dass die Lohnungleichheit in den letzten Jahren abgenommen haben dürfte. Um zu untersuchen, um wieviel der obere Rand der Lohnverteilung mehr verdient als der untere Rand, wird das 90:10-Perzentilverhältnis herangezogen. Es beschreibt das Verhältnis der Person mit dem geringsten Verdienst aus dem obersten Dezil zu der Person mit dem höchsten Verdienst aus dem untersten Dezil. Die Ungleichheit ist 1997 mit einem Wert von 3,2 am niedrigsten. Bis 2011 ist ein Anstieg zu beobachten; es wird ein Höchststand mit einem Wert von rund 4,0 erreicht. Danach findet eine Trendwende statt, dass 2020 ein vorläufiger Tiefstand mit einem Wert von 3,4 Prozent erreicht wird. Das heißt, die Person mit dem höchsten Einkommen verdient 3,4 mal soviel wie die Person mit dem niedrigsten Einkommen.
Einordnung Caritas
Auch bei der Caritas erzielten die unteren Lohngruppen in den letzten Tarifrunden aufgrund von beschlossenen Mindest- und Sockelbeträgen überproportionale Lohnsteigerungen. Die daraus resultierende Stauchung der Vergütungstabellen führt dazu, dass vermehrt Zulagen insbesondere für Fach- und Leitungskräfte ausgezahlt werden. In einer aktuellen Abfrage hat die Dienstgeberseite der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas Daten erhoben, um zu untersuchen, wie verbreitet die über- oder außertarifliche Bezahlung durch Zulagen oder höhere Eingruppierungen im Bereich des Caritastarifs (AVR) ist. 244 Rechtsträger bzw. Einrichtungen haben an der Umfrage teilgenommen und repräsentieren damit mehr als 150.000 Beschäftigte. Fast 65 Prozent der Teilnehmenden gaben an, dass sie einzelnen Beschäftigten Gehälter bezahlen, die über dem Niveau der AVR Caritas liegen. Im Durchschnitt erhalten damit knapp zehn Prozent der Beschäftigten eine höhere Bezahlung. Bei fast 58 Prozent erfolgt die höhere Bezahlung ausschließlich durch die Gewährung von Zulagen. Rund 39 Prozent geben an, dass Zulagen und höhere Eingruppierungen genutzt werden. Bei knapp der 80 Prozent der teilnehmenden Rechtsträger oder Betriebe werden Zulagen für Leitungskräfte gewährt. Diese sind in der Regel unbefristet und liegen am häufigsten zwischen 250 und 500 Euro. Zulagen für Fachkräfte werden bei knapp 60 Prozent der teilnehmenden Rechtsträger oder Betriebe gewährt und liegen am häufigsten zwischen 100 und 250 Euro (Abb. 1-4).
Fazit
Aus der Studie im DIW Wochenbericht 5/2024 gehen drei Kernbotschaften zur Lohnentwicklung hervor: Gerade für untere Lohngruppen (erstes Dezil) sind seit 2013 deutliche Reallohnsteigerungen zu verzeichnen. Seit 2017 schrumpft der Niedriglohnsektor kontinuierlich. Mit einem Anteil von 15,2 Prozent im Jahr 2020 liegt der Niedriglohnsektor unter dem Niveau von 1995. Schließlich ist die Lohnungleichheit zurückgegangen und befindet sich mit einem Wert von 3,4 Prozent (Perzentilverhältnis) auf einem vorläufigen Tiefstand. Die daraus resultierende Stauchung der Lohnverteilung führt dazu, dass insbesondere für Fach- und Leitungskräfte immer häufiger Zulagen gezahlt werden müssen, um einen notwendigen Abstand zu niedriger qualifizierten Tätigkeiten herzustellen. Diesen Trend bestätigt auch eine Abfrage der Dienstgeberseite der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas, die zeigt, dass die Gewährung von über- und außertariflichen Zulagen gerade bei Fach- und Leitungskräften zentral ist, um die Abstände zwischen den Lohngruppen wiederherzustellen. In den zum Jahresende anstehenden Tarifverhandlungen muss das Augenmerk daher auf diese wichtigen und zunehmend knappen Beschäftigtengruppen gerichtet werden. Anreize durch eine höhere Spreizung müssen gesetzt werden. Eine erneute Konzentration auf Sockel- und Mindestbeträge für die unteren Einkommensklassen, die zu einer weiteren Annäherung der Lohngruppen führen würde, ist nicht vertretbar.
Ökonomische Analyse