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Entwicklung und Bewertung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland

Der Mindestlohn wird normalerweise von der Mindestlohnkommission festgelegt. Die Erhöhung auf 12 Euro zum 01.10.2022 ist jedoch auf Initiative der Regierungskoalition politisch veranlasst worden. Diese Steigerung um fast 15 Prozent hat massive Auswirkungen auf das gesamte Lohngefüge in Deutschland.

Der gesetzliche Mindestlohn – Entwicklung seit 2015

Nach langjährigen politischen Diskussionen und wissenschaftlichen Beratungen wurde in Deutschland zum 1. Januar 2015 ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn eingeführt. Dafür wurde eine ständige Mindestlohnkommission errichtet, die paritätisch aus Vertretern von Gewerkschaften und Arbeitgebern besetzt ist und einen Vorsitzenden sowie zwei beratende Mitglieder aus der Wissenschaft umfasst. Sie hat die Aufgabe, die Anpassung der Höhe des Mindestlohns im Zeitverlauf vorzunehmen (Vgl. Mindestlohngesetz – MiLoG I §2).

Dabei prüft sie im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen und faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen, ohne die Beschäftigung zu gefährden. Der Mindestlohn wird dabei nachlaufend an die Tarifentwicklung angepasst (Vgl. Mindestlohngesetz – MiLoG I§9).

Zum Zeitpunkt der Einführung betrug der Mindestlohn 8,50 € brutto pro Stunde. Nach schrittweiser Anpassung in den letzten Jahren wurde er zum 1. Januar 2022 auf 9,82 € erhöht; eine zweite Anpassung wird zum 1. Juli 2022 auf 10,45 € erfolgen (Vgl. Dritte Mindestlohnanpassungsverordnung). Diese Erhöhungen wurden jeweils von der Mindestlohnkommission – und damit von den Tarifpartnern – beschlossen.

Eine Ausnahme stellt nun die erneute Erhöhung des Mindestlohns um fast 15 % auf 12 € zum
1. Oktober 2022 dar. Sie wurde nicht von den Tarifpartnern in der Mindestlohnkommission, sondern allein von der Politik beschlossen. Das entsprechende Gesetz wurde vom Bundestag am 3. Juni 2022 beschlossen und abschließend vom Bundesrat am 10. Juni 2022 gebilligt. Es soll noch im Juni in Kraft treten. Laut Gesetzentwurf werden von der Erhöhung circa 6,2 Millionen Menschen (S. 17), vor allem in Ostdeutschland sowie Frauen (S. 20) profitieren (Vgl. Mindestlohnerhöhungsgesetz).

Damit wurde ein Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag der Regierungsparteien „Leistung muss anerkannt und Arbeit gerecht bezahlt werden“ umgesetzt. Die Höhe von 12 € brutto pro Stunde entspricht dabei ungefähr 60% des Bruttomedianlohns in Deutschland. Bei diesem Wert handelt es sich um einen von der europäischen Kommission in einem Vorschlag für eine Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union im Oktober 2020 als Empfehlung formulierten Indikator zur angemessenen Höhe von Mindestlöhnen. Dieser Wert orientiert sich an der in amtlichen Statistiken häufig verwendeten relativen Armutsgrenze, die bei 60 % des mittleren (medianen) Äquivalenzeinkommens liegt. Das Äquivalenzeinkommen berücksichtigt die Einkommenssituation von Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung und macht diese vergleichbar. Es wird daher auch Haushaltsäquivalenzeinkommen genannt.

Die folgende Abbildung aus dem IW-Report 23/2022 vom 16.05.2022 (Stellungnahme Mindestlohnerhöhungsgesetz von Hagen Lesch und Christoph Schröder) veranschaulicht, dass die Mindestlohndynamik sich von der allgemeinen Tariflohndynamik entkoppelt. Dabei wird für den Tarifindex ab dem 2. Quartal eine Projektion zugrunde gelegt. Im Jahr 2022 kommt es im Mindestlohnsektor zu einer Lohnerhöhung von insgesamt 22,2 %. Ohne die außerordentliche Anhebung im Oktober wären es lediglich 6,4%. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geht für das Jahr 2022 von einem Wachstum der Effektivlöhne von 2,5% aus; für das Jahr 2023 von 4,4 % (Vgl. Aktualisierte Konjunkturprognose März 2022, S. 60).

Index (Januar 2015 = 100)

Einordnung und Bewertung der Mindestlohnentwicklung

Stauchung in der Lohnstruktur

Die enorme Steigerung am unteren Ende des Lohngefüges führt zunächst zu einer Stauchung in der Lohnstruktur. Das bedeutet, dass der Abstand der Löhne von gering qualifizierten Beschäftigten zu Fachkräften mit Berufsausbildung deutlich verkleinert wird. Um den notwendigen Abstand wieder herzustellen, müsste das gesamte Lohngefüge nach oben angepasst werden.

Entwicklung der Löhne

Eine Untersuchung von Martin Müller (KfW Research) geht auf die Lohnentwicklung in den fünf Leistungsgruppen gemäß der amtlichen Einkommensstatistik ein. Es handelt sich dabei um eine grobe Abstufung der Arbeitnehmertätigkeiten nach Qualifikationsprofil des Arbeitsplatzes. Es zeigt sich, dass die Bruttoverdienste von Führungskräften und Akademikern (Leistungsgruppe 1) zwischen 2010 und 2020 einen Anstieg in Höhe von 26,9% verzeichnen. Der Durchschnittswert lag bei 23,4%. Geringere Steigerungen ergaben sich für angelernte Arbeitnehmende (Leistungsgruppe 4) in Höhe von 16,5% und ungelernte Arbeitnehmende (Leistungsgruppe 5) in Höhe von 18,4%. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Verdienste in der Leistungsgruppe 5 von 2020 auf 2021 stärker stiegen (4,24%) als in der Leistungsgruppe 1 (2,34%). Laut Müller baut sich der Gehaltsvorsprung der Hochqualifizierten längerfristig betrachtet seit 2010 weiter aus. Hinsichtlich der außerordentlichen Erhöhung des Mindestlohnes, weist er jedoch darauf hin, dass hinreichend große Gehaltsunterschiede bestehen bleiben müssen, um Anreize aufrecht zu erhalten, sich zu qualifizieren und die Kosten eines Studiums oder einer betrieblichen Weiterbildung auf sich zu nehmen (Vgl. Fokus Volkswirtschaft Nr. 377 vom 19. April 2022). Im Bereich der Caritas sind die Löhne im Zeitraum 2010 bis 2020 sogar durchschnittlich um 28,3% gestiegen. Hinzu kommt, dass gerade die Beschäftigten mit niedrigeren Einkommen – das sind neben Berufsanfängern insbesondere Beschäftigte ohne Fachausbildung oder Studium – aufgrund von Mindestbeträgen (Steigerung um x%, mindestens aber y Euro) prozentual sogar noch stärker von den Lohnsteigerungen profitiert haben. Neu eingeführte Entgeltbestandteile, wie z.B. die 2021 eingeführten neuen Zulagen für die Beschäftigten in Pflege führen ebenfalls zu prozentual betrachtet überproportionalen Steigerungen.

Mindestlohn, Lohnentwicklung und Inflation

Im Monatsbericht Februar 2022 veröffentlichte die Deutsche Bundesbank ihre Schätzungen zu den makroökonomischen Effekten zur Mindestlohnerhöhung im Oktober. Es wird angenommen, dass Auswirkungen auf das gesamtwirtschaftliche Lohnwachstum in erster Linie aus den Änderungen bei den Löhnen der direkt Betroffenen und den Ausstrahleffekten auf darüberliegende Lohngruppen ergeben. Insgesamt geht man davon aus, dass die Lohnsumme durch die Mindestlohnanhebung, ohne Berücksichtigung von weiteren Anpassungsreaktionen, um 0,8 % höher liegen wird. Diese Steigerung in den Brutto-Stundenlöhnen wurde in Simulationen mit den makroökonometrischen Modellen der Bundesbank ab dem 4. Quartal weitergegeben. Gemäß der Studie werden aufgrund der höheren Lohnkosten die Verbraucherpreise nach und nach ansteigen. Im Jahresdurchschnitt wird eine Steigerung im Harmonischen Verbraucherpreisindex (HVPI) um 0,06 Prozentpunkte im Jahr 2023 und um 0,14 Prozentpunkte im Jahr 2024 erwartet; nach 4 Jahren eine Steigerung um 0,25 Prozentpunkte. Die Studienautoren weisen darauf hin, dass die frühzeitige Ankündigung der Mindestlohnanhebung eine zügigere Weitergabe der höheren Lohnkosten auf die Verbraucherpreise zur Folge haben könnten. Auch das Umfeld hoher Inflation könnten die steigenden Produktionskosten in stärkerem Ausmaß auf die Verbraucherpreise weitergeben als es die Simulation wiedergibt (Vgl. Deutsche Bundesbank Monatsbericht Februar 2022, S. 56 – 57).

Ausblick

Es bleibt abzuwarten, wie sich die von der Politik gewollte und nun im „Gesetz zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn und zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung“ umgesetzte Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro auf die Vergütungen in den Branchen auswirken wird. Im Bereich der Caritas sind nur einzelne Beschäftigte im Tarifgebiet Ost der Regionalkommission Ost von der Mindestlohnerhöhung ab Oktober 2022 betroffen – und das auch nur in geringem Umfang. Konkret geht es um Beschäftigte in den ersten beiden Stufen der Vergütungsgruppe 11, sofern keine Zulagen gezahlt werden. Mit der nächsten, im Bereich der Regionalkommission Ost bereits beschlossenen linearen Erhöhung im Januar 2023 und der Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit im Tarifgebiet Ost um eine Stunde auf 39 Stunden, liegt aber auch die Vergütung dieser Beschäftigten wieder über dem Mindestlohn.

Insgesamt ist aber auf jeden Fall davon auszugehen, dass insbesondere die Vergütung von den ohnehin knappen Fachkräften – auch bei der Caritas – unter Druck geraten wird. Die Tarifpartner stehen daher – vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Situation mit hoher Inflation und gedämpften Wachstumsprognosen – vor großen Herausforderungen. In den anstehenden Tarifrunden wird es daher neben den sicher spannenden Verhandlungen über die Höhe der Lohnsteigerung auch darum gehen, die Vergütungssysteme neu auszurichten.

Ökonomische Analyse

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