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BAG: Keine Abweichung von den Vorgaben des Entgelt­fortzahlungs­gesetzes durch Bestimmungen der AVR Caritas möglich

Da § 4 Abs. 4 EFZG nur auf Tarifverträge anzuwenden ist, sind Regelungen in den AVR, die für den Dienstnehmer ungünstig von den Vorgaben des EFZG abweichen, gemäß § 12 EFZG unwirksam. Diese Auffassung des LAG Hamm (18 Sa 1158/21) hat das BAG nun bestätigt.

Leitsatz

Da § 4 Abs. 4 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) nur auf Tarifverträge anzuwenden ist, sind Regelungen in den AVR Caritas, die für den Dienstnehmer ungünstig von den Vorgaben des EFZG abweichen, gemäß § 12 EFZG unwirksam. Diese Auffassung des Landesarbeitsgerichts Hamm (18 Sa 1158/21) hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) mit Urteil vom 5. Oktober 2023 (Az. 6 AZR 210/22, Urteilsgründe veröffentlicht am 24. Januar 2024) bestätigt.

Sachverhalt

Der Kläger arbeitet bei der Beklagten als Anästhesiepfleger. Der Arbeitsvertrag des Klägers regelt, dass auf sein Dienstverhältnis die Richtlinien für Arbeitsverträge in Einrichtungen des Deutschen Caritasverbands (AVR Caritas) in ihrer jeweils geltenden Fassung Anwendung finden.

§ 7 Abs. 1 der Anlage 31 AVR Caritas bestimmt, dass für die Entgeltberechnung die Zeit des Bereitschaftsdienstes nach dem Maß der während des Bereitschaftsdienstes erfahrungsgemäß durchschnittlich anfallenden Arbeitsleistungen bis zu 90 % als Arbeitszeit zu werten ist. § 7 Abs. 6 der Anlage 31 AVR Caritas sieht eine Wahlmöglichkeit für Mitarbeitende dahingehend vor, dass anstelle der Auszahlung des Entgelts für gewertete Arbeitszeit ein Freizeitausgleich erfolgen kann. Der Kläger hat sich in der Vergangenheit stets für letztere Variante entschieden.

In den Jahren 2020 und 2021 war der Kläger zu mehreren Bereitschaftsdiensten eingeteilt, die er infolge krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht geleistet hat. Für die ausgefallenen Bereitschaftsdienste schrieb die Beklage dem Kläger keine Stunden in seinem Arbeitszeitkonto gut. Die Beklagte zahlte dem Kläger für die Zeiten der Arbeitsunfähigkeit dessen verstetigte Dienstbezüge nach Abschnitt XII Buchst. b Anlage 1 sowie einen Aufschlag nach § 2 Abs. 3 der Anlage 14 AVR Caritas, der sich nach der durchschnittlichen Vergütung in einem Referenzzeitraum richtete. Bei der Berechnung des Aufschlags wurden die in den letzten drei Monaten vor dem krankheitsbedingten Ausfall gezahlten Aufschläge, Zeitzuschläge, Rufbereitschafts- und Überstundenvergütungen berücksichtigt, aber nicht die durch Freizeit ausgeglichenen vom Kläger geleisteten Bereitschaftsdienste.

Der Kläger war der Auffassung, er könne nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) für krankheitsbedingt ausgefallene Bereitschaftsdienste Vergütung in dem Umfang fordern, wie diese als Arbeitszeit gewertet würden. Er begehrte mit seiner Klage die Stundengutschriften für die ausgefallenen Bereitschaftsdienste, soweit für diese nicht bereits ein Freizeitausgleich durch die Beklagte gewährt worden ist.

Die Beklagte war unter anderem der Ansicht, soweit die AVR Caritas vom EFZG abweichen, sei dies zulässig, da es sich bei AVR um Tarifverträge im Sinne des § 4 Abs. 4 EFZG handle. Zudem handle es sich bei den Bereitschaftsdiensten (zum Teil) um Überstunden.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm hat ihr stattgegeben und die Beklagte zur Gutschrift der geltend gemachten Stundenanzahl verurteilt. Dagegen hat die Beklagte Revision eingelegt.

Entscheidung

Das BAG hat das Urteil des LAG Hamm aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das LAG Hamm zurückverwiesen. Dabei hat der Sechste Senat jedoch die Ausführungen des LAG Hamm bezüglich des Verhältnisses der AVR zu Regelungen des EFZG bestätigt.

Zunächst hat das BAG festgestellt, dass es sich bei den Bereitschaftsdiensten schon deshalb nicht um Überstunden handelt, da diese dienstplanmäßig festgelegt waren (vgl. § 4 Abs. 7 Anlage 31 AVR Caritas).

Nach dem modifizierten Entgeltausfallprinzip des EFZG habe die Beklagte somit Entgeltfortzahlung für die streitgegenständlichen krankheitsbedingt ausgefallenen Bereitschaftsdienste zu leisten. Wären die Bereitschaftsdienste nicht ausgefallen, wären die Bereitschaftsdienstzeiten im Falle des Klägers gemäß § 7 Anlage 31 AVR Caritas zu 90 Prozent als Arbeitszeit zu werten gewesen.

Somit seien die Bestimmungen des Abschnitts XII (b) der Anlage 1 iVm § 2 Abs. 1 und 3 der Anlage 14 AVR Caritas unwirksam, da sie in unzulässiger Weise gegen die Ansprüche des Klägers nach § 4 EFZG und damit gegen § 12 EFZG verstießen.

Die Bestimmungen der AVR Caritas folgen hinsichtlich der Bereitschaftsdienste nicht dem Lohnausfallprinzip des EFZG, sondern stellen auf die durchschnittliche Vergütung innerhalb eines Referenzzeitraums ab. Die durch die Beklagte erfolgte Zahlung des Aufschlags nach § 2 Abs. 3 der Anlage 14 AVR Caritas stelle daher keine vollständige Entgeltzahlung dar, sondern decke nur die Teile der Bereitschaftsdienste ab, die in den vergangenen drei Monaten finanziell abgegolten wurden, nicht jedoch diejenigen, die in Freizeit ausgeglichen wurden. Wählen Dienstnehmer im Rahmen ihrer Wahlmöglichkeit den Freizeitausleich, seien sie schlechter gestellt als die Dienstnehmer, die sich für eine Vergütung der Bereitschaftsdienste entscheiden.

Eine gemäß § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG zulässige Abweichung vom EFZG liege hier nicht vor, da es sich bei den AVR Caritas nicht um einen Tarifvertrag, sondern um Allgemeine Geschäftsbedingungen handle. Dass AVR von der Ausnahme nicht umfasst sein sollen, ergebe sich schon aus dem Wortlaut. Der im Ergebnis an Tarifverträge angeglichene Kontrollmaßstab (§ 310 Abs 4 Satz 2 BGB) habe keine Veränderung der Rechtsnormqualität der kirchlichen Regelung zur Folge.

Dem Gesetzgeber sei der Unterschied bezüglich der Rechtsnormqualität von AVR und Tarifverträgen auch bekannt. Dies komme etwa durch die ausdrückliche Benennung beider Regelwerke in § 7 Abs. 4 ArbZG und § 21a Abs. 3 JArbSchG zum Ausdruck. Keineswegs lasse sich daraus jedoch ein genereller Wille des Normgebers erkennen, beide Regelwerke generell gleichzustellen. Im Gegenteil sei davon auszugehen, dass Ausnahmen bewusst auf Tarifverträge beschränkt sein sollen, sofern AVR – wie in § 4 Abs. 4 EFZG – nicht ausdrücklich mitgenannt werden. Auch die Gesetzesbegründung des Nachweisgesetztes lasse keinen Schluss darauf zu, dass eine Gleichsetzung von AVR und Tarifverträgen über den Geltungsbereich des Nachweisgesetzes hinaus gewollt sein könnte.

Da es sich bei § 4 Abs. 4 EFZG folglich um eine bewusst abgeschlossene Regelung handle, scheide eine analoge Anwendung auf AVR aus.

Die ausschließlich Tarifverträgen vorbehaltende Abweichungsmöglichkeit verstoße weder gegen das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 3 WRV noch – in Anlehnung an die Rechtsprechung des BAG zum Befristungsrecht (BAG, Urteil vom 25.03.2009 Az. 7 AZR 710/07) – gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Das LAG Hamm habe (lediglich) rechtsfehlerhaft nicht geprüft, auf Basis welcher Regelungen das Arbeitszeitkonto des Klägers geführt wird und ob diese die Buchung des Bereitschaftsdienstentgelts als Zeitgutschrift überhaupt zulassen. Sollte ein Arbeitszeitkonto nach § 9 Anlage 31 AVR geführt werden, wäre dies nicht möglich und die Klage folglich abzuweisen. Diese bislang noch nicht thematisierte Frage soll nun im erweiterten Berufungsverfahren behandelt werden.

Erste Einordnung

Das Urteil des BAG betrifft die AVR Caritas und ist daher für die Einrichtungen und Dienste der Caritas naturgemäß von Bedeutung. Die Entscheidung enthält die klare Verneinung der Frage, ob durch die Bestimmungen der AVR von den Vorgaben des Entgeltfortzahlungsgesetzes abgewichen werden kann. Sie stellt somit eine erhebliche Einschränkung des Gestaltungsspielraums der Arbeitsrechtlichen Kommissionen dar.

Für die Praxis bedeutet dies konkret, dass § 2 Abs. 3 Anlage 14 AVR Caritas nicht mehr anzuwenden ist, wenn die Regelung in Konkurrenz zu § 4 Abs. 1 EFZG steht. Es gilt daher der Grundsatz, dass alle im Dienstplan festgelegten Arbeitsstunden auch bei Krankheit zu bezahlen sind.

Wie gewohnt müssen Dienstgeber ermitteln, in welchem Umfang Mitarbeitende gearbeitet hätten, wenn sie arbeitsfähig gewesen wären. Um das fortzuzahlende Entgelt zu berechnen, ist dann die Zahl der durch die Arbeitsunfähigkeit ausgefallenen Arbeitsstunden (inklusive der Bereitschaftsdienste) mit dem hierfür jeweils geschuldeten Arbeitsentgelt zu multiplizieren.

Die vollumfängliche Entgeltfortzahlung hinsichtlich der Bereitschaftsdienste in Form von Freizeitausgleich vorzunehmen, dürfte nur im Einzelfall möglich sein und ist grundsätzlich nicht zu empfehlen. Sofern der Wunsch dennoch besteht, müssen Dienstgeber prüfen, auf Grundlage welcher Regelungen in ihren Einrichtungen Arbeitszeitkonten geführt werden und ob diese ein derartiges Vorgehen zulassen. Sofern die Arbeitszeitkonten nach § 9 Abs. 3 Anlage 31 AVR Caritas geführt werden, ist dies nicht der Fall. Die Norm legt die auf dem Arbeitszeitkonto buchbaren Zeiten abschließend fest. Bezüglich der Bereitschaftsdienste gibt § 9 Abs. 3 Anlage 31 AVR Caritas nur die regulären Entgelte, nicht jedoch Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zur Regelung in Dienstvereinbarungen frei.

Schließlich ergibt sich aus § 7 Abs. 6 Anlage 31 auch für die Mitarbeitenden, die den Freizeitausgleich gewählt haben, kein Anspruch auf die Gutschrift von Stunden auf dem Arbeitszeitkonto.

Da die betroffenen Regelungen zu Überstunden, Bereitschaftsdiensten und Arbeitszeitkonto in den Anlagen 32 und 33 AVR Caritas grundsätzlich gleich ausgestaltet sind, lassen sich die Ausführungen auf diese Anlagen übertragen.

Rechtsprechung

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