Scheinselbständigkeit als Risiko für Dienst- und Arbeitgeber – eine Zwischenlösung für Honorarlehrkräfte
Das Thema Scheinselbständigkeit beschäftigt Dienst- und Arbeitgeber seit langem. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden verschiedene Vermutungstatbestände in das SGB IV aufgenommen. Nach diesen kann unter bestimmten Voraussetzungen bei Honorarkräften, Selbständigen, Freelancern etc. ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vermutet werden. Die deutschen Sozialgerichte haben in den letzten Jahren die Voraussetzungen für die Feststellung einer sog. Scheinselbständigkeit immer weiter fortentwickelt, was zur Folge hatte, dass selbständige Dienstverhältnisse in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft heute praktisch nicht mehr vorstellbar sind. Anfang 2025 hat der Gesetzgeber nach einer Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) den Blick auf selbständige Lehrkräfte an Schulen, Universitäten, Volkshochschulen etc. ausgeweitet und hierzu eine Art Übergangsregelung auf den Weg gebracht.
Scheinselbständigkeit, ein Risiko für Dienst- und Arbeitgeber
Von Scheinselbständigkeit wird gesprochen, wenn ein Dienst- oder Arbeitgeber mit einer Person einen Vertrag über die Erbringung von selbständigen Arbeitsleistungen abschließt, die entsprechende Person jedoch anschließend nach § 611a BGB im Betrieb eingesetzt wird, sich also z.B. an Weisungen von Vorgesetzten halten muss, in die normalen Schichtdienste eingeteilt wird und – genau wie alle Mitarbeitenden – Urlaub beantragen muss. In einem solchen Fall liegt nach gesetzlicher Definition in § 7 Abs. 1 SGB IV ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bzw. ein Fall der Scheinselbständigkeit vor.
Die Feststellung, dass statt eines echten selbständigen Dienstverhältnisses ein sog. Scheinselbständigkeitsverhältnis vorliegt, führt dazu, dass die Sozialversicherungsträger gemäß § 25 Abs. 1 SGB IV für einen Zeitraum von vier Jahren (teilweise länger, bis zu 30 Jahren) die nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträge von dem entsprechenden Dienst- oder Arbeitgeber nacherheben können. Ein Dienst- oder Arbeitgeber kann aber nur für einen Zeitraum von drei Monaten den Arbeitnehmerbeitrag der Sozialversicherungsbeiträge einbehalten bzw. vom Arbeitnehmer verlangen (§ 28g SGB IV). Sollte es also für Dienst- oder Arbeitgeber zu einer Nacherhebung von Sozialversicherungsbeiträgen für vier Jahre kommen, wird der nahezu für den gesamten Zeitraum Arbeitgeber- UND Arbeitnehmeranteil allein tragen müssen.
Scheinselbständigkeit in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft
Seit den Anfangsjahren des 21. Jahrhunderts hat die Deutsche Rentenversicherung Bund zunehmend Betriebsprüfungen in Einrichtungen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft durchgeführt, namentlich in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Pflegediensten, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe etc. Die dort festgestellten Fälle von Scheinselbständigkeit haben zahlreiche Gerichtsverfahren nach sich gezogen und das BSG hat seine entsprechende Rechtsprechung immer weiter fortentwickelt.
Als eine Art Grundsatzurteil kann hier die Entscheidung des BSG vom 7. Juni 2019 (Az.: B 12 R 6/18 R) gelten. Pflegekräfte, die als Selbständige in stationären Pflegeeinrichtungen tätig sind, können regelmäßig nicht als solche angesehen werden, sondern unterliegen als Beschäftigte der Sozialversicherungspflicht. Pflegekräfte seien nach Feststellung des BSG nämlich grundsätzlich in die Organisations- und Weisungsstruktur der stationären Pflegeeinrichtung eingebunden, was dem Arbeitnehmerbegriff des § 611a BGB bzw. dem Beschäftigtenbegriff des § 7 Abs. 1 SGB IV entspricht. Unternehmerische Freiheiten seien daher bei der konkreten Tätigkeit in einer stationären Pflegeeinrichtung praktisch nicht denkbar. Selbstständigkeit könne demgegenüber nur höchst ausnahmsweise beim Vorliegen bestimmter Indizien angenommen werden. Bloße Freiräume bei der Aufgabenerledigung seien keine ausreichenden Indizien, die für eine Selbständigkeit sprechen können. Diese grundsätzliche Wertung des BSG gilt auch für hochqualifizierte Erwerbstätige sowie für Erwerbstätige mit besonderer Leitungsfunktion (Honorarärzte etc.). Bei solchen Leitungskräften oder Personen mit hohem Dienstrang ist eine arbeitnehmerhafte Abhängigkeit allein durch die Eingliederung in die jeweilige Einrichtung grundsätzlich anzunehmen.
Mit diesem Urteil ließ das BSG die Annahme einer echten selbständigen Tätigkeit in Sozial- und Gesundheitseinrichtungen insgesamt nur noch in echten Ausnahmefällen zu, z.B. bei Therapeuten, die in einer eigener Praxis arbeiten und nur aufgrund von Einzelvereinbarungen in einem Heim, Krankenhaus oder in einer Jugend-WG tätig werden.
Scheinselbständigkeit bei Lehrkräften?
Bei verschiedenen Lehrkräften unterscheidet sich die Art der Eingliederung in die Organisations- und Weisungsstruktur des Dienst- oder Arbeitgebers deutlich von dem bisher Gesagten. Bei Lehrkräften im normalen Schulbetrieb wird man noch davon ausgehen müssen, dass diese ebenfalls eng in einen organisatorischen Ablauf eingebunden und daher als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte i.S.d. § 7 Abs. 1 SGB IV anzusehen sind.
Anders sieht es bei Dozentinnen oder Lehrbeauftragten an Universitäten, Hoch- und Fachhochschulen, Fachschulen, Volkshochschulen oder Musikschulen aus, wenn sie mit einer von vornherein zeitlich und sachlich beschränkten Lehrverpflichtung betraut sind, weitere Pflichten nicht zu übernehmen haben und sich dadurch von den fest angestellten Lehrkräften erheblich unterscheiden. Noch im Jahr 2018 hat das BSG in seiner sog. Musikschullehrer I-Entscheidung ausdrücklich anerkannt, dass ein Musiklehrer an einer Musikschule als Selbständiger gelten kann, BSG, Urteil vom 14. März 2018, Az.: B 12 R 3/17 R.
Mit seiner Musikschullehrer II-Entscheidung (Herrenberg-Urteil) aus dem Jahr 2022 (BSG, Urteil vom 28. Juni 2022, Az.: B 12 R 3/20 R) hat das BSG seine bisherige Rechtsprechung korrigiert und legt dar, dass eine Musikschullehrerin, deren Tätigkeit in festgelegten Räumen stattfindet und die auch in prägender Weise in die Organisationsabläufe der Musikschule eingegliedert ist, in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis zur Musikschule steht. Diese Entscheidung hatte weitreichende Konsequenzen. Vor allem führte sie dazu, dass die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung ihre Beurteilungsmaßstäbe für das Vorliegen einer echten Selbständigkeit bzw. einer Scheinselbständigkeit überarbeitet haben. Danach sind Lehrer, Dozentinnen und Lehrbeauftragte an Universitäten, Hoch- und Fachhochschulen, Fachschulen, Volkshochschulen, Musikschulen etc. grundsätzlich als in den Schulbetrieb eingegliedert anzusehen und stehen ebenso grundsätzlich einem Beschäftigungsverhältnis nach § 7 Abs. 1 SGB IV zu diesen Dienst- oder Arbeitgebern.
Die neue Rechtsprechung des BSG und ihre Folgen: kein großer Wurf des Gesetzgebers
Offensichtlich hat sich der 12. Senat des BSG nicht oder nur ansatzweise mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen der Musikschullehrer II-Entscheidung bzw. des Herrenberg-Urteils auseinandergesetzt und übersehen, dass selbständige Tätigkeiten als Dozent/innen oder Lehrbeauftragte an Universitäten, Hoch und Fachhochschulen etc. typischerweise keine Umgehung der Sozialversicherungspflicht sind, sondern gewachsene und verbreitete Beschäftigungsmodelle, die oftmals neben einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis erbracht werden und daher nicht dazu führen, dass die entsprechenden Personen sozialversicherungsrechtlich schutzlos sind. Ebenso hat das BSG offensichtlich übersehen, welche Unsicherheiten die neue Rechtsprechung gerade an Musikschulen, Pflegeschulen und Hochschulen schafft. Der Gesetzgeber sah sich offensichtlich aufgrund der neuen Rechtsprechung des BSG zum Handeln veranlasst.
Am 30. Januar 2025 hat der Bundestag in 2. und 3. Lesung eine Übergangsregelung für Lehrtätigkeiten verabschiedet, der der Bundesrat in seiner Sitzung am 14. Februar 2025 zugestimmt hat. Diese Übergangsregelung sieht im Wesentlichen vor, dass, falls eine Prüfung durch einen Versicherungsträger zur Annahme eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses einer Lehrkraft führt, die Versicherungspflicht erst ab dem 1. Januar 2027 eintritt.
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass
- dieVertragsparteien bei Vertragsschluss übereinstimmend von einer Selbstständigkeit ausgegangen sind und
- die betroffene Lehrkraft zustimmt.
Letzteres ist zu dokumentieren.
Auch wenn keine Feststellungen eines Versicherungsträgers vorliegen, gilt unter den o.g. Voraussetzungen Gleiches; bis zum 31. Dezember 2026 tritt keine Versicherungs- und Beitragspflicht aufgrund einer Beschäftigung ein.
Bei Lehrtätigkeiten von Künstlern oder Publizisten, die die Voraussetzungen des § 2 KSVG erfüllen, also künstlerisch darstellend oder publizistisch tätig sind, bleibt es auch dort bis zum 1. Januar 2027 bei der selbständigen Künstlersozialversicherung. Weiterhin pflichtig in der Rentenversicherung bleiben Lehrkräfte, die auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind.
Mit dieser gesetzlichen Neuregelung in § 127 SGB IV will der Gesetzgeber im Sinne einer Übergangsmöglichkeit Bildungseinrichtungen und Lehrkräften ausreichend Zeit geben, um die notwendigen Umstellungen der Organisations- und Geschäftsmodelle vorzunehmen, damit Lehrtätigkeiten auch unter den veränderten Rahmenbedingungen weiterhin sowohl in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung als auch selbständig ausgeübt werden können.
Die Übergangsregelung bis Ende 2026 schafft kurzfristig wohl eine gewisse Planungs- und Rechtssicherheit für Bildungseinrichtungen. Ob die Übergangsregelung tatsächlich zu einer echten Entschärfung der Lage der Bildungseinrichtungen führt, bleibt abzuwarten, da das Letztentscheidungsrecht über das aktuelle oder zukünftige Bestehen einer Sozialversicherungspflicht am Ende von der Zustimmung der betroffenen Lehrpersonen abhängig ist.
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