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LAG Hamm: Keine Abweichung von den Vorgaben des EFZG durch Bestimmungen der AVR

Da § 4 Abs. 4 EFZG nur auf Tarifverträge anzuwenden ist, sind Regelungen in den AVR, die für den Dienstnehmer ungünstig von den Vorgaben des EFZG abweichen, gemäß § 12 EFZG unwirksam.

Sachverhalt

Der Kläger arbeitet bei der Beklagten als Anästhesiepfleger. Der Arbeitsvertrag des Klägers regelt, dass auf sein Dienstverhältnis die Richtlinien für Arbeitsverträge in Einrichtungen des deutschen B (AVR-Caritas) in ihrer jeweils geltenden Fassung Anwendung finden. § 7 Abs. 1 der Anlage 31 AVR-Caritas bestimmt, dass für die Entgeltberechnung die Zeit des Bereitschaftsdienstes nach dem Maß der während des Bereitschaftsdienstes erfahrungsgemäß durchschnittlich anfallenden Arbeitsleistungen bis zu 90 % als Arbeitszeit zu werten ist. § 7 Abs. 6 der Anlage 31 AVR-Caritas sieht eine Wahlmöglichkeit des Mitarbeitenden dahingehend vor, dass anstelle der Auszahlung des Entgelts für gewertete Arbeitszeit ein Freizeitausgleich erfolgen kann. Der Kläger war im Jahr 2020 und 2021 zu mehreren Bereitschaftsdiensten eingeteilt, die er infolge arbeitsunfähiger Erkrankung nicht geleistet hat und hat sich innerhalb des ihm zustehenden Wahlrechts in der Vergangenheit für den Freizeitausgleich entschieden. Die ausgefallenen Bereitschaftsdienste wurden im Arbeitszeitkonto des Klägers mit 0 gewertet. Die Beklagte zahlte dem Kläger für die Zeiten der Arbeitsunfähigkeit dessen Dienstbezüge und einen Aufschlag nach § 2 Abs. 3 der Anlage 14 AVR-Caritas, die sich nach der durchschnittlichen Vergütung in einem Referenzzeitraum richten. Der Kläger begehrte mit seiner Klage die Stundengutschriften für die ausgefallenen Bereitschaftsdienste, soweit für diese nicht bereits ein Freizeitausgleich durch die Beklagte gewährt worden ist. Die Vorinstanz (ArbG Bocholt 12.08.2021 Az. 4 Ca 250/21) hat sich der Auffassung der Beklagten, nicht zur Stundengutschrift verpflichtet zu sein, angeschlossen. 

Entscheidung

Das LAG Hamm hält die zulässige Berufung des Klägers dagegen für begründet. Die entsprechende Stundengutschrift stehe dem Kläger zu, da die Beklagte nach § 7 Abs. 1 der Anlage 31 AVR-Caritas verpflichtet gewesen sei, die krankheitsbedingt ausgefallenen Stunden als „Ist-Stunden“ auf dem Arbeitszeitkonto des Klägers zu berücksichtigen. Zugunsten des Klägers greife der Entgeltfortzahlungstatbestand des § 4 Abs. 1 EFZG ein. Zunächst handle es sich bei den ausgefallenen Bereitschaftsdiensten um regelmäßige Arbeitszeit und nicht um „Überstunden“ im Sinne des Ausnahmetatbestands des § 4 Abs. 1a EFZG. Insbesondere aber seien die Bestimmungen des Abschnitts XII (b) der Anlage 1 iVm § 2 Abs. 1 und 3 der Anlage 14 AVR-Caritas unwirksam, da sie in unzulässiger Weise gegen die Ansprüche des Klägers nach § 4 EFZG und damit gegen § 12 EFZG verstießen. Die Bestimmungen der AVR-Caritas folgen hinsichtlich der Bereitschaftsdienste nicht dem Lohnausfallprinzip des EFZG, sondern stellen auf die Durchschnittliche Vergütung innerhalb eines Referenzzeitraums ab. Die durch die Beklagte erfolgte Zahlung des Aufschlags nach § 2 Abs. 3 der Anlage 14 AVR-Caritas stelle daher keine vollständige Entgeltzahlung dar, sondern decke nur die Teile der Bereitschaftsdienste ab, die in den vergangenen drei Monaten finanziell abgegolten wurden, nicht jedoch diejenigen, die in Freizeit ausgeglichen wurden. Wählen Dienstnehmer im Rahmen ihrer Wahlmöglichkeit den Freizeitausleich, seien sie schlechter gestellt als die Dienstnehmer, die sich für eine Vergütung der Bereitschaftsdienste entscheiden. Eine gemäß § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG zulässige Abweichung vom EFZG liege hier nicht vor, da es sich bei den Bestimmungen der B nicht um einen Tarifvertrag, sondern um Allgemeine Geschäftsbedingungen handle. Eine Auslegung der Norm dahingehend, dass neben dem Abstellen auf Tarifverträge auch die kollektiven Arbeitsrechtsregelungen der Kirchen gemeint sind, sei eine unzulässige Rechtsfortbildung. Eine entsprechend gegenteilige gesetzgeberische Entscheidung ergebe sich aus einem Umkehrschluss aus § 7 Abs. 4 ArbZG und § 21 Abs. 3 JArbSchG, in denen die kollektiven Arbeitsrechtsregelungen der Kirchen ausdrücklich genannt würden. Daraus lasse sich ableiten, dass der Gesetzgeber im Falle des § 4 Abs. 4 EFZG bewusst zwischen Tarifverträgen und kollektiven Arbeitsrechtsregelungen der Kirchen differenziert habe. Die ausschließlich Tarifverträgen vorbehaltende Abweichungsmöglichkeit dabei verstoße weder gegen das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 3 WRV noch – in Anlehnung an die Rechtsprechung des BAG zum Befristungsrecht (BAG, Urteil vom 25.03.2009 Az. 7 AZR 710/07) – gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Bewertung

Die noch nicht rechtskräftige Entscheidung des LAG Hamm betrifft die AVR-Caritas und ist daher von erheblicher Bedeutung. Die Entscheidung enthält die klare Verneinung der Frage, ob durch die Bestimmungen der AVR von den Vorgaben des Entgeltfortzahlungsgesetzes abgewichen werden kann. Sie stellt somit eine erhebliche Einschränkung des Gestaltungsspielraums der Arbeitsrechtlichen Kommissionen dar. Die grundsätzliche Bedeutung dieser Rechtsfrage hat auch das LAG Hamm erkannt und entsprechend die Revision zugelassen, die bereits eingelegt wurde (5 AZR 210/22). Es ist daher mit Spannung zu erwarten, ob das BAG der Argumentation des LAG Hamm folgt, dass eine Anwendbarkeit des § 4 Abs. 4 EFZG auf die AVR schon deshalb scheitere, weil der Gesetzgeber in anderen Gesetzen die Kirchen und deren Arbeitsrechtsbestimmungen ausdrücklich erwähnt hat. Dies hat der Gesetzgeber im Übrigen auch nur in einem der beiden genannten Paragraphen, nämlich in § 7 Abs. 4 ArbZG, getan. Ein § 21 Abs. 3 JArbSchG existiert in der neuen Fassung nicht mehr, in der alten Fassung enthielt er keine ausdrückliche Nennung der kirchlichen Kollektivarbeitsrechtsregelungen. Aus der Erwähnung im ArbZG einen Umkehrschluss auf einen entgegenstehenden gesetzgeberischen Willen in § 4 Abs. 4 EFZG zu konstruieren, vermag bei zwei voneinander unabhängig verabschiedeten Gesetzen nicht ohne Weiteres zu überzeugen. Es bleibt daher zu hoffen, dass das BAG sich für die abschließende Beantwortung dieser bedeutenden Rechtsfrage tiefer in eine inhaltliche Auseinandersetzung hineinwagt.

Rechtsprechung

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